„Damit alle eins seien“ – Joh 17,21 (Nürnberg, 16.05.2010)

Predigt gehalten in Lorenzkirche, Nürnberg, 16. Mai 2010

Vor seiner Kreuzigung hat der Erlöser Jesus Christus für Seine Jünger zum Vater gebetet, „dass sie alle eins seien, … damit die Welt glaube, dass Du Mich gesandt hast“ (Johannes 17,21). Dieses Gebet ist auch das Letzte Testament, das der Herr denen hinterlässt, die an Ihn glauben werden: also die Einheit untereinander. Nichts ist in den Augen Gottes wertvoller als die Gemeinschaft und Einheit zwischen Menschen, in denen sich die Gemeinschaft und Einheit der göttlichen Personen spiegelt. Und die Christen sind als erstes gerufen, „dass sie eins seien“ – „damit die Welt glaube“, d. h. damit sie Gott erkennt, der die Liebe ist und per se die Quelle der Gemeinschaft und Einheit. Wie Gott Einer in der Dreiheit der Göttlichen Personen ist, so ist auch die Menschheit, die „nach Seinem Bild und Aehnlichkeit geschaffen ist“ (Genesis 1,26), eins in der Vielfalt der Personen, die sie zusammen bilden. Die Einheit in der Vielfalt ist das Fundament der Schöpfung an sich, die geschützt und bewahrt werden will. Nur in ihrem Bemühen, die Einheit in der Vielfalt durch die Gemeinschaft untereinander zu bewahren und weiter zu entwickeln,  finden die Menschen für sich Erfüllung und Seelenfrieden.

Doch die Gemeinschaft und Einheit unter den Menschen wurde entwertet durch die Sünde der ersten Menschen und wird unablässig weiter entwertet durch die Sünde jedes einzelnen Menschen. Das Wesen der Sünde besteht gerade in der Verfälschung oder der Zurückweisung der Gemeinschaft, in der Isolation voneinander, in der fehlenden Akzeptanz der Tatsache, dass wir je einzigartige und unterschiedliche Menschen sind. Zuerst haben die Menschen Gott zurückgewiesen und sind aus der Gemeinschaft mit Ihm herausgefallen, danach haben sie sich gegenseitig zurückgewiesen, indem sie die Gemeinschaft und die Harmonie untereinander durch Egoismus und Hass gestört oder sogar zerstört haben. Niemand konnte sie aus diesem allgemeinen Zustand der Sünde befreien als Gott Selbst, der dazu den Weg der Inkarnation in der Person Seines Sohnes zur Erlösung der Welt wählte. Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, hat in Seiner Person die Gemeinschaft der Menschen mit Gott und den anderen Menschen wiederhergestellt, durch Ihn kann jeder jederzeit seine Beziehung zu den Nächsten erneuern und in dieser Beziehung voranschreiten. Denn der Sinn des Lebens selbst ist der Fortschritt in der Gemeinschaft.

Nur in Jesus Christus können sich die Menschen wirklich lieben, können sie in voller Gemeinschaft und Harmonie leben, können sie wahrhaft eins sein, worum der Herr gebetet hat. Dazu hat der Erlöser an Pfingsten die Kirche gegründet, in der Er Sein erlösendes Werk der Versöhnung der Menschen und ihrer Stärkung in der Gemeinschaft mit Gott und untereinander durch den Heiligen Geist fortsetzt. In der Kirche wird durch die Gebete der Gläubigen und die Kommunion an den Heiligen Sakramenten (Mysterien) das große Geheimnis ihrer Gemeinschaft mit Gott und untereinander immer mehr verwirklicht.

Gewiss hat der Erlöser eine einzige Kirche gestiftet, über die der Heilige Apostel Paulus sagt, dass sie „der Leib Christi“ ist (Epheser 1,23), wir Gläubige aber sind die Glieder dieses Leibes. Trotzdem sind zwischen den Christen vor allem im zweiten Jahrtausend Spaltungen aufgetreten, Trennungen, die sie in mehrere Konfessionen geteilt haben, wobei jede für sich reklamiert, die Kirche Jesu Christi zu sein. Die Trennung der Christen und die Konkurrenz untereinander durch Proselytismus und sogar Religionskriege hat das christliche Zeugnis in der Geschichte immer mehr geschwächt und zur Säkularisierung selbst des Christentums geführt, das größte Drama der christlichen Welt von heute.

Natürlich ist das Bemühen um die Wiederherstellung der christlichen Einheit in erster Linie die Pflicht derer, die an der Spitze des Volkes Gottes stehen, also der Bischöfe, der Priester und der Theologen, die auch im Laufe der Geschichte mehr zur Spaltung im Glauben beigetragen haben als die einfachen Gläubigen. Die Ökumenische Bewegung, die vor über hundert Jahren auf Initiative einiger davon entstanden ist, bemüht sich, im Bewusstsein der Gläubigen das Wissen um die Pflicht wieder zu wecken, das Gebet und das Testament des Erlösers zu erfüllen, „dass sie alle eins seien“, und bemüht sich, die historischen Spaltungen zu überwinden durch Ausgang aus der Isolation und gegenseitiges Kennenlernen, durch Wertschätzung der Traditionen der anderen, im Blick auf das, was der andere besser pflegt und bewahrt, und in wechselseitiger Bereicherung. Dies wird „Dialog der Liebe“ genannt, ohne den die Vereinigung nicht möglich sein wird. Weil jede Vereinigung grundsätzlich zuerst in den Herzen der Menschen geschieht.

Die Theologen der Kirchen ihrerseits bemühen sich in verschiedenen Dialogen, zu einem Konsens im Glauben zu kommen, der aus der Perspektive der orthodoxen Kirche und Theologie  nur dadurch wiedererlangt werden kann, dass wir wieder zum Glauben des Alten Ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausends   kommen. Dieses Bemühen der Theologen muss jedoch stets vom Gebet der Gläubigen begleitet sein. Wir alle müssen uns dessen bewusst sein, dass die Einheit im Glauben zuerst eine Gabe Gottes ist, die wir nicht anders als durch totale und vorbehaltlose Offenheit gegenüber den jeweils anderen erhalten können, durch tiefe Demut und eine absolute Öffnung unserer selbst, wie auch durch das ständige Anflehen der göttlichen Hilfe erhalten können. Gott kann nur in Herzen kommen und dort wirken, die so rein und demütig sind wie die Herzen von Kindern. Nur in dem Maße, in dem wir Christen wirklich unsere Spaltung als wahres Drama erleben und erleiden – die das größte Anti-Zeugnis gegenüber Christus ist und für die Ungläubigen ein Grund für Spott –, nur in dem Maße, in dem wir uns einander annähern und füreinander sowie für die Einheit aller beten, wird uns Gott die Gabe der Einheit schenken, weil nur dann unser Herz vorbereitet ist, diese Gabe zu empfangen.

Ohnehin muss das Gebet im Leben des Christen eine absolute Priorität darstellen. Wir können uns nicht Christen nennen, wenn wir nicht täglich so viel als möglich beten – „unablässig“, wie uns die Heilige Schrift anleitet (1. Thessalonicher 5,17) –, wenn wir nicht eine ständige Verbindung zur Kirche haben, den Ort der Gemeinschaft zwischen den Menschen par excellence, wenn wir nicht „bis auf’s Blut“ gegen die Sünde kämpfen, wie uns der Heilige Apostel Paulus anleitet (Hebräer 12,4), und wenn wir uns nicht um ein reines und heiliges Leben bemühen als lebendiges Zeugnis davon, dass Christus in uns lebt. „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“, wie derselbe Apostel sagt (Galater 2,20).

Und weil wir Christen von Nürnberg heute die Gebetswoche für die Einheit der Christen eröffnen, möchte ich Ihnen einige Gedanken nahe bringen dazu, wie wir als Christen beten sollen, damit unser Gebet wirklich unser Herz und unser ganzes Wesen ergreift und nicht nur den Verstand (den Intellekt). Es ist wahr, dass das Gebet nicht „erlernt“ werden kann; es wird als Beziehung der Liebe zu Gott erlebt, „in dem wir leben, weben und sind“ (Apostelgeschichte 17,28). Ein Kind lebt spontan, auf die unverfälschteste Weise, seine Beziehung der Liebe zu den Eltern. Doch haben wir nicht mehr die Einfachheit und Unschuld der Kinder; unser Herz ist oft versteinert und unser Urteil pervertiert. Wir nehmen Gott nicht mehr als tiefsten Grund unseres Wesens und unseres Daseins wahr. Daher müssen wir uns besonders darum bemühen zu beten, also uns dessen bewusst zu werden, dass Gott in unseren Herzen wohnt und in einen Dialog mit Ihm zu treten.

Zuerst müssen wir wissen, dass unser ganzes Wesen und Dasein sich im Herzen konzentriert. Das Herz umfasst in sich wie in einem Fokus alle psycho-physischen Kräfte des Menschen, die nichts anderes sind als Energien des Herzens. Auch der Verstand (der Intellekt) ist eine Energie des Herzens. Nur wenn alle diese Energien und vor allem der Verstand in einer engen Verbindung zum Herzen stehen, erfreut sich der Mensch des „Friedens im Herzen“ oder des Seelenfriedens, derer er für ein gesundes Leben so sehr bedarf. Dieses seelische Gleichgewicht kann indes  schnell verloren gehen und ist nur  schwer wieder aufzubauen, vor allem wenn der Mensch kein konstantes geistliches Leben pflegt und führt. Im Zustand des seelischen Ungleichgewichts verlieren wir leicht den Mut, leiden unter Depressionen, Stress, Undankbarkeit und Unzufriedenheit. Das Gebet ist der einzige Weg, über den wir unser seelisches Gleichgewicht wiedererlangen können, unter der Bedingung, dass wir das Gebet „mit dem Verstand im Herzen“ verrichten, also mit der notwendigen Aufmerksamkeit, damit der Verstand aufhört umherzuschweifen und in das Herz zurückkehrt oder „herabsteigt“, um seine Ruhe zu finden. Dies ist nicht leicht. Wir merken oft, dass gerade im Moment des Gebets unser Verstand sich von anderen äußerlichen Dingen ablenken lässt, die ihn daran hindern, ins Herz „herabzusteigen“. Manchmal sind die Müdigkeit und der Stress so groß dass der Verstand sich beim Gebet nicht konzentrieren kann. Dann besonders müssen wir beruhigende Musik hören, an den Gottesdiensten der Kirche teilnehmen und uns auch vom Gebet der Nächsten tragen lassen. Die großen Geistlichen des Gebets, die zum vollkommenen, also unablässigen Gebet gelangt sind, empfehlen uns so oft als möglich kurze, aber ständig wiederholte Gebete zu sprechen. Dies können Verse aus der Heiligen Schrift sein wie etwa: „Eile, Gott, mich zu erretten, Herr, mir zu helfen“ (Psalm 70,2), oder auch das so genannte „Jesusgebet“: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner den Sünder“ oder nur „Jesus, erbarme dich “. Durch solche kurzen, aber häufig wiederholten Gebete kann sich der Verstand besser konzentrieren und leichter ins Herz „herabsteigen“. Solche Gebete können jederzeit und überall gesprochen werden: im Alltag, auf der Arbeit, auf der Reise, überall.

Wir müssen auch wissen, dass das Gebet vom Fasten und einem in jeder Hinsicht maßvollen Leben gefördert wird. Eine asketische Maxime besagt, dass man nicht mit vollem Bauche beten kann, auch nicht, wenn man zu sehr mit den Dingen dieser Welt beschäftigt ist. Es gibt Zeit für alles, also auch für das Gebet, wenn wir Gott wirklich lieben.

Das christliche Leben ist ein asketisches Leben, also ein Leben, das auf viele Vergnügungen verzichtet, die uns die Welt bietet. Denn wenn wir nach dem Geist dieser Welt leben, dann können wir den Geist Christi nicht mehr haben, dann säkularisieren wir uns, vermischen uns also mit der Welt und leben, als existierte Gott nicht. Die Freude am Leben, der Mut im Kampf mit den Versuchungen und Mühen jedes Tages, wie auch die wahre Freiheit erlangen wir gerade durch Gebet und Fasten, durch bewusste und verantwortliche Eingliederung in das Leben der Kirche, also der Pfarrei, zu der wir gehören, wo wir die Gemeinschaft mit unseren Nächsten leben. Durch Gebet und Fasten reifen wir in der Gemeinschaft mit unseren Nächsten und erlangen mit der Zeit auch ein „mitleidsvolles Herz“, ein Herz, das vor Liebe zu den Menschen, den Tieren und der ganzen Schöpfung Gottes brennt (Heiliger Isaak der Syrer, 7. Jh.). Der Gläubige, der von Gott als Gabe ein mitleidsvolles Herz empfangen hat, umfasst in sich wie Christus die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung; er ist von nichts und niemand mehr getrennt, ist eins mit allen und allem, was existiert. Nur in dem Maße, in dem wir uns bemühen, gut zu ausnahmslos allen Menschen zu sein, für alle zu beten, nur Gutes zu tun, sogar denen die uns hassen, erfüllen wir das Testament des Herrn, „dass sie alle eins seien“.

Beten wir besonders in dieser Woche darum, dass der Heilige Geist, der seit Pfingsten unaufhörlich in der Kirche und den Herzen der Gläubigen wirkt, uns sensibler macht für das Gebet und das Testament des Herrn, „dass sie alle eins seien“.

 

† Metropolit Serafim