Wie die Heilige Schrift unser Ordensleben trägt und prägt, aus orthodoxer Perspektive (Triefenstein, 25.-30.06.2011)

Vortrag gehalten am Internationalen interkonfessionellen Ordenskongress  25.-30. Juni 2011, Triefenstein (bei Marktheidenfeld)

Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Heilige Schrift in der Orthodoxen Kirche wenig gelesen wird und zu wenig bekannt ist. Auf den ersten Blick betrachtet, ist das wahr. Tatsächlich lesen nur wenige Orthodoxe regelmäßig in der Bibel, manche haben gar keine Bibel zu Hause. Auch werden im Rahmen der Göttlichen Liturgie, dem am häufigsten gefeierten orthodoxen Gottesdienst, nur zwei biblische Perikopen gelesen, eine aus den Briefen der Apostel (Epistel) und eine aus den Evangelien (Evangelium). Die Predigt kann ein Kommentar oder eine Auslegung zu einer der beiden gelesenen Perikopen sein oder aber eine Themenpredigt. Trotzdem ist die gesamte Göttliche Liturgie in allen ihren drei Teilen: der Proskomidie (Vorbereitung der Gaben zu ihrer Heiligung), der Katechumenenliturgie (Wortgottesdienst) und der Liturgie der Gläubigen (die Eucharistie im eigentlichen Sinne) durchgehend biblisch inspiriert. Liturgie-Ausgaben in deutscher Sprache zitieren üblicherweise die Bibelstellen aus der Heiligen Schrift, auf die sich die Gebete und Gesänge der Liturgie beziehen oder von denen sie inspiriert sind. Bibelstellen und Bezüge dazu tauchen ständig auf. Die orthodoxe Liturgie ist eine Bibel in Hymnen und Gebeten, eine Heilige Schrift in Bildern und Symbolen. Denn in der Form von Gebeten und Gesängen dringt das Wort Gottes leichter ins Herz des Menschen vor als durch das einfache Vorlesen.

Doch die Göttliche Liturgie (die Eucharistie) wird nie alleine gefeiert, sondern ist nach dem Wort des Psalmisten immer umrahmt von den sieben Tagzeitengebeten: „Ich lobe dich des Tages siebenmal um deiner gerechten Ordnungen willen.“ (Psalm 119,164) Diese „sieben Tagzeitengebete sind folgende: die Vesper (rum. Vecernia, Abendgottesdienst), die Komplet (Pavecerniţa, Gottesdienst nach dem Nachtmahl), die Mette (Miezonoptica, Andacht zur Mitternacht), die Laudes (Utrenia, Morgengottesdienst) sowie die kleinen Horen: Prim (6 Uhr), Terz (9 Uhr), die Sext (12 Uhr) und die Non (15 Uhr). Auch diese Gottesdienste sind aus biblischen  Texten zusammengesetzt, besonders aus den Psalmen, sowie aus den Troparen (Hymnen) und Gebeten, die ebenfalls alle biblisch inspiriert sind. Im Rahmen eines Jahres wird das gesamte Neue Testament und fast das ganze Alte Testament im Rahmen der öffentlichen Gottesdienste der Orthodoxen Kirche rezitiert. Von allen biblischen Texten werden die Psalmen Davids am häufigsten gelesen. Alle 150 Psalmen werden in den sieben Tagzeitengebeten mindestens einmal pro Woche gelesen. Wobei diese Tagzeitengebete vollständig nur in den Klöstern gefeiert werden.

Das antike Prinzip „Ora et labora“ ordnet das Leben jedes christlichen Mönchs. Orthodoxe Mönche sind gehalten, das unablässige Gebet zu praktizieren, auch während sie arbeiten. Freilich richtet sich die Anweisung „Betet ohne Unterlaß!“ (1. Thessalonicher 5,17) des Apostels an alle Christen. Doch die Mönche sind als erste dazu berufen, unablässig zu beten, und vor allem für die ganze Welt zu beten, also für die ganze Menschheit. Sie tun dies als Christen, die „der Welt entsagen“, nicht aus Hass gegenüber den Menschen, sondern um den Menschen auf eine andere Weise zu helfen, als sie dies tun könnten, wenn sie in der Welt geblieben wären, und zwar durch ihr Gebet. Sie tun dies natürlich durch das liturgische Gebet der Kirche, d.h. durch die tägliche Feier der sieben Tagzeitengebete und der Göttlichen Liturgie, außerdem durch das Gebet in der Klosterzelle und das „ständige Gebet“ oder „Jesusgebet“: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich über mich Sünder“, das selbst biblisch inspiriert ist. Jeder bemüht sich, dieses Gebet so oft wie möglich und in jeder Umgebung zu sprechen.

Im orthodoxen Mönchtum gibt es nicht die Tradition jener „lectio divina“ (Lektüre oder Studium der Heiligen Schrift), die im abendländischen Mönchtum verbreitet ist, auch wenn alle Väter zur Lektüre des Wortes Gottes anleiten. Im „Paterikon“ (Pateric), einer Sammlung von Väterzitaten, die zu den Lieblingsbüchern des Mönchs gehört, wird sogar gesagt, dass „du bei allem, was du tust, das Zeugnis der Heiligen Schrift für dich hast“ (Abba Antonie). Dies bedeutet nicht, die Heilige Schrift nur zu kennen, sondern sie sich auch im eigenen alltäglichen Leben anzueignen oder das eigene Leben nach dem Wort Gottes auszurichten. Deshalb darf sich die Lektüre der Heiligen Schrift nicht auf die bloße intellektuelle Lektüre oder Meditation reduzieren, sondern sie vollzieht sich im Geiste des Gebets, damit das Wort Gottes tief in die Seele eindringt und allmählich das Ähnlich-Werden mit Gott bewirkt, also dass wir den Sinn Christi und die Gemeinschaft mit Christus in uns haben (vgl. 1. Korinther 2,16; Philipper 2,5).

Pater Enzo Bianchi, der Abt der Gemeinschaft von Bose (Italien), sagt in diesem Sinne: „Eine der wichtigsten Verkündigungen der Väter besteht in der Warnung vor der Profanisierung der Heiligen Schrift, indem wir sie zu einem Objekt der Spekulation oder der Erkenntnis aus reiner Liebe zu intellektueller Erkenntnis machen, weil dies auch ein Atheist tun kann, während der Gläubige weiß, dass er die Heilige Schrift, wenn er sie in die Hand nimmt, nur durch die Gnade Gottes verstehen kann.“ Und die Gnade wird uns vor allem im Gebet geschenkt. Pater Enzo sagt weiter, dass unter „lectio divina“ das Lesen der Heiligen Schrift wie als ein Gebet verstanden werden muss. Genau in diesem Sinne sind auch die Liturgie und die sieben Tagzeitengebete zu verstehen, sowohl bei den Orthodoxen, als auch bei den anderen christlichen Konfessionen. Der öffentliche Kultus ist das Mittel par excellence zum Lobe Gottes durch Sein Wort selbst, wie es sich in der Heiligen Schrift offenbart hat. Für uns Christen ist das Wort Gottes der vor allen Zeiten Eingeborene Sohn Gottes des Vaters, der „als die Zeit erfüllt war“ (Galater 4,4) Mensch geworden ist „aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria“. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte mitten unter uns…“ (Johannes 1,14) Während Gott (also der Sohn oder das Wort Gottes) im Alten Testament durch ausgewählte Propheten und Menschen spricht, wird das Wort im Neuen Testament Fleisch und richtet sich direkt an die Menschen.

Nach Seiner Himmelfahrt bleibt Jesus in der Welt unter der Form des eucharistischen Brotes, das Sein Leib ist, wie auch durch die Worte und Lehre, die Seine Jünger hinterlassen. Trotzdem hat die Eucharistie, das Sakrament des Leibes und Blutes des Herrn, für uns Orthodoxe – und ich denke auch für die Katholiken und Anglikaner – die Priorität, genauso wie der Mensch als lebendiges Wesen gegenüber dem, was er sagt, Priorität hat. Die Eucharistie oder das Abendmahl des Herrn versammelt die Gläubigen, damit die Gegenwart des Herrn unter ihnen aktualisiert wird und sie sich von Leib und Blut Christi nähren, damit sie das ewige Leben haben (vgl. Johannes 6,51; von daher rührt auch die patristische Aussage „Die Eucharistie ist das Heilmittel der Unsterblichkeit“). Gleichzeitig ist die Eucharistie die vollkommenste Möglichkeit für die Gläubigen, sich die Worte des Herrn zu vergegenwärtigen, die auch ihrerseits die Gegenwart Gottes in der Welt bis zum Ende der Zeiten fortsetzen.

Für uns Orthodoxe ist Christus mit Seinen ungeschaffenen Energien (seiner Gnade) auch in der Ikone gegenwärtig. Auch die Ikone ist ein Zeugnis der Menschwerdung des Wortes und deren Fortsetzung in die Welt. In der Ikone betrachten wir Christus und Sein erlösendes Wirken und treten im Gebet in einen lebendigen Dialog mit Ihm. Die Ablehnung der Ikone bedeutet zwar nicht die Ablehnung des Glaubens an die Menschwerdung Jesu Christi, wohl aber ein ungenügendes Verständnis der Menschwerdung.

In der Kirche haben wir also das geschriebene Wort, das gelesene Wort, das gesungene Wort, das gebetete Wort und das Wort, wie es in der Eucharistie konsumiert und in der Ikone betrachtet wird. Der ganze Leib nimmt Anteil am Leben des Geistes nach dem Wort des Apostels Paulus: „Preist Gott mit eurem Leibe!“ (1. Korinther 6,20)

Die Tradition der Kirche sah in der Heiligen Schrift immer das „Buch der Bücher“ für die Kirche, das diese unter Führung des Heiligen Geistes im liturgischen Rahmen der Feier der Heiligen Sakramente (Mysterien) verkündet und interpretiert. Denn in den Heiligen Sakramenten, und besonders in der Eucharistie, teilt sich uns der Heilige Geist mit, Der uns hilft, in alle Tiefen des Wortes Gottes einzudringen. Die Apostel selbst haben die Worte des Herrn erst beim „Brotbrechen“ verstanden, also nachdem sie die Kommunion am Leib und am Blut des Herrn empfangen haben (vgl. Lukas 24,30-32).

Gleichzeitig ist die Heilige Schrift gleichzeitig auch das Buch jedes Gläubigen, allerdings nicht als Individuum, sondern als Person in der lebendigen Gemeinschaft der Kirche. Gelöst von der Kirche und ohne Teilnahme am gemeinsamen Gebet der Kirche kann niemand die Heilige Schrift recht verstehen, sondern höchstens fragmentarisch oder sogar falsch und ohne Nutzen für die Erlösung. Denn niemand wird für sich allein als Individuum erlöst, sondern nur in der Gemeinschaft der Nächsten, also in der Kirche. Der Sinn der ganzen Schrift ist grundsätzlich die Stärkung der Gemeinschaft der Menschen untereinander zu ihrer gemeinsamen Erlösung. Wenn wir das Wort Gottes im Geist des Gebets lesen, in Frömmigkeit und mit Demut, treten wir in einen lebendigen und persönlichen Dialog mit Gott ein. Denn die Bibel ist nicht nur ein einfaches Buch, sondern die Fortsetzung der Person, die sie sie beseelt hat, also des Logos oder des ewigen Wortes Gottes. So wird der Dialog des gläubigen Volkes mit Gott im gemeinsamen Gebet der Kirche zum individuellen, persönlichen Dialog des Gläubigen mit Gott durch die Lektüre der Heiligen Schrift zu Hause. Es existiert also eine selige Interdependenz zwischen dem Gebet der Kirche, in der wir die Gemeinschaft mit unseren Nächsten leben, und der individuellen Lektüre der Heiligen Schrift, die uns den Willen Gottes im Blick auf unsere Erlösung noch näher offenbart. Wenn die Verbindung mit der Kirche sich abschwächt, dann nimmt auch die Verbindung zur Heiligen Schrift ab.

Trotz allem darf kritisch festgehalten werden, dass die Orthodoxen im Allgemeinen nicht vertraut sind mit der Lektüre der Heiligen Schrift. Und ich glaube nicht, dass viele Mönche davon eine Ausnahme bilden. Trotzdem können wir nicht sagen, dass das Mönchsleben in der Orthodoxie nicht vom Geist der Heiligen Schrift geprägt wäre, vor allem vom Geist der Psalmen und der Evangelien, den heiligen Texten, die im täglichen Kultus der Kirche am meisten präsent sind. Zum Gebetskanon der Klosterzelle des orthodoxen Mönchs zählt im Allgemeinen auch die tägliche Gebetslektüre von mindestens einer Kathisma aus dem Psalter (die 150 Psalmen sind in 20 Kathismata aufgeteilt). Die strebsameren Mönche beten täglich mehrere Kathismata, manche sogar den ganzen Psalter. Von den Psalmen sagen die Kirchenväter, dass sie ein Resümee der ganzen Heiligen Schrift sind. Die Psalmen sind ohnehin mehr als jedes andere Buch der Heiligen Schrift in sich selbst eine Sammlung von Lob-, Dank- und Bittgebeten an Gott. Im Judentum wie auch in der katholischen und evangelischen Tradition werden die Psalmen gesungen. In der orthodoxen Tradition werden die Psalmen im Allgemeinen gesprochen, aber es gibt auch Psalmen, die gesungen werden in den Vigilien vor den Hochfesten oder sogar im Rahmen der eucharistischen Liturgie.

Auch wenn der orthodoxe Gottesdienst und Kultus geprägt ist von biblischen Texten bzw. biblischer Inspiration, so kann der Gottesdienst die persönliche Lektüre des Wortes Gottes nie ersetzen, das einen unendlichen Reichtum in sich birgt wie Gott Selbst. Die regelmäßige Lektüre der Heiligen Schrift leitet unser Leben Schritt für Schritt, es erleuchtet unseren Verstand, es verwandelt unser Denken und entzündet unser Herz für Gott. Deshalb sagt der Psalmist: „Die Erklärung deiner Wort bringt Erleuchtung, den Unerfahrenen schenkt sie Einsicht.“ Und er betet: „Festige meine Schritte, wie du es verheißen hast. Lass kein Unrecht über mich herrschen!“ (Psalm 118,130 u. 133)

Abschließend möchte ich unterstreichen, dass die Idee selbst des monastischen Lebens eine profund evangelische Idee ist. Die Mönchsgelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams sind die evangelischen Weisungen schlechthin (sog. „Evangelische Räte“). Der orthodoxe Ritus der Mönchsweihe, der von besonderer Schönheit ist, fasst die Evangelischen Räte der Nachfolge Christi zusammen: den der Keuschheit, den der Armut (und der Freundschaft zu den Armen) und den des Gehorsams bis zum Tod. Die Mönche haben also als höchstes Modell Christus Selbst, mit Dessen Leben sie sich zu identifizieren bemühen. Auf ihrem Weg zu Christus blicken sie besonders auf jene, die schon das Ähnlich-Werden mit Christus erreicht haben: auf die Gottesmutter, auf den heiligen Johannes den Täufer, auf die heiligen Apostel und alle Heiligen, deren Leben ein Beispiel für sie ist. Die Mönche halten sich aufgrund ihrer Lebensweise nicht für bessere Christen als die anderen Christen, weil sie wissen, dass die Erlösung und jede Tugend ausschließlich Gnadengaben Gottes sind. Sie versuchen jedoch, das evangelische Maximum zu leben, das Christus von allen fordert. „Darum seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matthäus 5,48) „Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, …, und komm und folge mir nach!“ (Markus 10,21) Vergessen wir nicht, dass die erste christliche Gemeinschaft eine quasi-monastische Gemeinschaft war und das Mönchtum im vierten Jahrhundert infolge eines Niedergangs des christlichen Lebens durch die Massenkonversion von Heiden ohne die notwendige Vorbereitung einen besonderen Aufschwung genommen hat.

 

† Metropolit Serafim

Rumänische Orthodoxe Metropolie von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa, Nürnberg