Die orthodoxe Spiritualität und die christliche Diakonie (Neuendettelsau, 22.05.2010)

Vortrag gehalten an der Diakonie in Neuendettelsau, 22. Mai 2010 zum 60. Geburtstag des Vaters Prof. Dr. h. c. Hermann Schoenauer

Einführung

Ich freue mich sehr, einen bescheidenen Beitrag zu diesem Buch leisten zu können, das Vater Prof. Dr. h. c. Hermann Schoenauer zum 60. Geburtstag gewidmet ist. Gegenüber Vater Schoenauer empfinde ich eine ganz besondere Hochachtung und Wertschätzung, weil er auf beispielhafte Weise die konkreteste Dimension der christlichen Liebe verkörpert, nach der wir beim Jüngsten Gericht gerichtet werden (vgl. Mt. 25,31-46): die Dimension des Geistes der Diakonie oder des uneigennützigen Dienstes an den Nächsten im Namen Christi. Als Rektor der Diakonie Neuendettelsau bemüht sich Professor Schoenauer seit vielen Jahren, dieses Diakonische Werk im Geiste seines Gründers, Pfarrer Wilhelm Löhe, auszubauen, fortzuentwickeln und dessen verschiedene Dienste stets weiter zu intensivieren, dessen Maxime lautete: „Alle Diakonie geht vom Altar aus“. Bei diesem großen und heiligen Werk stehen Rektor Schoenauer stets zuerst die Diakonieschwestern zur Seite, die als Lebensprinzip die monachische Regel „Ora et labora“ in ihrem Leben anstreben und befolgen: „Bete und arbeite!“

Es ist sicher überhaupt nicht leicht, eine so große und breitgefächerte Institution wie die Diakonie von Neuendettelsau im Geiste Löhes und der Diakonieschwestern von hier zu führen, die zudem an Zahl leider von Jahr zu Jahr weniger werden. Denn der traditionelle Geist der christlichen Diakonie wird heute unterminiert vom „Zeitgeist“, der Christus zwar nicht offen leugnet, ihn aber trotzdem zum Schweigen bringt, manchmal auch aus einer Art Scham, weil er den Menschen nur noch in seiner irdischen Dimension wahrnimmt und die geistliche, himmlische Dimension vernachlässigt oder sogar vergisst. Die christliche Diakonie steht unabhängig der Konfession heute in der Gefahr, sich zusammen mit der Welt zunehmend zu säkularisieren, weil ihre Verbindung zum Altar schwächer wird, weil sie sich nicht mehr stets auf Christus bezieht und weil sie sich nicht mehr an der Kraft Christi inspiriert, welche die in allen Getauften wirksame Kraft des Geistes ist.

Gerade deshalb glaube ich, dass die orthodoxe Spiritualität, die tief in der Liturgie der Kirche verwurzelt ist und ihrem Wesen nach mystisch wie asketisch par excellence ist, gleichzeitig aber auch zutiefst human, weil sie nach den tiefsten und existenziellsten Bedürfnissen der menschlichen Natur fragt, dass diese orthodoxe Spiritualität also die Christen unterstützen kann, die in der organisierten Diakonie der Kirche arbeiten, eine Diakonie im Geist und aus der Kraft Christi zu entfalten und zu motivieren.

Im nun folgenden Beitrag will ich zunächst einige Aspekte der orthodoxen Spiritualität beschreiben, anschließend auf die Fragen antworten, welche die Initiatoren dieses Bandes gestellt haben.
 
Eine integrierte Spiritualität

Von Beginn an ist festzuhalten, dass jeder Versuch der Definition oder des In-Konzepte-Fassens des Glaubens und des christlichen Lebens, die doch ihrer Natur nach unaussprechlich sind, relativ bleibt wie alles Menschliche und nur „etwas“ von der großen Wirklichkeit erfassen kann, die Gott ist bzw. jenes Leben, an dem Er uns in Jesus Christus teilhaben lässt. Der Terminus „Spiritualität“ selbst ist in bestimmter Hinsicht unangemessen, um das christliche Leben zu bestimmen, das den Menschen in seiner ontologischen Einheit von Leib, Seele und Geist umfasst (vgl. 1. Thess. 5,23). Genau deshalb trennen wir Orthodoxen nicht die Theologie von der Spiritualität, der Liturgie oder der Diakonie, sondern betrachten alles als ein organisches Ganzes, einen einheitlichen Ausdruck des Lebens in Christus.

Das christliche Leben als Leben in Christus und im Heiligen Geist, das wir hier Spiritualität nennen, hat die Erneuerung des Menschen im Stande vor dem Sündenfall und seine allmähliche Vereinigung mit Christus zum Ziel, dem wahren Gott und wahren Menschen, bis hin zur Identifikation mit Ihm, d.h. „bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi“ (Eph. 4,13). Der heilige Apostel Paulus, der diesen Stand erreicht hat, sagt über sich selbst: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Er sagt auch: „Wir haben Christi Sinn“ (2. Kor. 2,16) und: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ (Phil. 2,5) Daher spricht die orthodoxe Theologie von der „Vergöttlichung des Menschen durch die Gnade“, d.h. der vollkommenen Gemeinschaft mit Christus und den Nächsten, durch die der Christ zur „Gottebenbildlichkeit“ kommt. Die heiligen Kirchenväter sagen: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde“ (Hl. Augustinus, Sermo 371,1 oder Athanasius, Inc. 54. 3; PG 25, 192B; diese Aussage findet sich in der einen oder anderen Form bei allen Kirchenvätern, im Mittelalter und bis in die Neuzeit). Eine andere Aussage lautet: „Der Mensch muss der Gnade nach werden, was Gott seinem Wesen nach ist“.

Seiner Natur nach strebt der Mensch nach der Ebenbildlichkeit zu seinem Prototyp, nachdem er „nach dem Abbild und Ebenbild Gottes“ (vgl. Gen. 1,26 f.) geschaffen ist. Doch wenn das „Abbild“ von der Schöpfung her gegeben ist, dann bleibt die „Gottebenbildlichkeit“ ein Bestreben, das wir nur gemeinsam mit Gott dem Herrn erreichen können. Es gibt viele Texte im Alten und Neuen Testament, die auch uns Menschen zur Heiligkeit aufrufen, dem Gottesattribut par excellence. Tatsächlich drücken all diese biblischen Begriffe der „Vergöttlichung“ (dass wir „Anteil bekommen an der göttlichen Natur“, 2. Petr. 1,4), der „Heiligkeit“ bzw. „Heiligung“ (Lev. 19,2; 1. Thess. 4,13), der „Vollkommenheit“ (Mt. 5,48) oder der „Gottebenbildlichkeit“ (vgl. Gen. 1,26 f.) dasselbe aus: sie bedeuten nichts anderes als die „höchste Humanisierung des Menschen“ und seine Vereinigung mit Gott. Der Mensch ist ohnehin für Gott geschaffen und verwirklicht sein Leben zur Fülle nur in der Gemeinschaft mit Gott und seinen Nächsten.

Die Abwendung von den Leidenschaften

Die Sünde, die ihrem Wesen nach Egoismus, fieberhafte Suche nach eigenem Vergnügen und Autonomie gegenüber Gott und den Nächsten bedeutet, entmenschlicht den Menschen und stößt ihn tiefer als seine eigene Natur. Wenn die Sünde im Menschen durch Wiederholung oder Gewöhnung daran Wurzeln schlägt, zerstört die Sünde den Menschen – sowohl seelisch wie körperlich. Daher betrachtet die ostkirchliche Tradition die Sünde als geistliche Krankheit. Nur in dem Maße, in dem wir uns von der Sünde befreien und uns zu Gott und unseren Nächsten hin öffnen, „vermenschlichen“ wir uns wirklich (werden wir human) – und „vergöttlichen“ uns, d.h. wir entwickeln uns gemäß unserer Natur als „nach dem Abbild und Ebenbild Gottes“ geschaffene Wesen.

Entgegen der modernen Tendenz westlicher Provenienz, welche die Sünde verharmlost bis dahin, dass sie vergessen oder geleugnet wird (gemäß der Devise: „der Mensch ist frei, Sünde existiert nicht“) hat die ostkirchliche Tradition eine sehr realistische Vorstellung von der Sünde, in der sie die Tendenz zur Autonomie und Entfremdung des Menschen von Gott sieht und das Übertreten der von Ihm dem Wesen des Menschen und der Schöpfung eingeprägten Ordnung. Alle Unordnung im Menschen und in der Umwelt, die uns umgibt, ist der Sünde geschuldet. Und „der Tod ist der Sünde Sold“ (Röm. 6,23) mit seinen vorausgehenden Phänomenen wie dem Verlust des seelischen Gleichgewichts, Krankheiten, Schmerzen, Leiden, Versagen usw.; auch auf der Ebene der Natur als Schöpfung Gottes erkennen wir die Folgen in ihrer Verschmutzung und Zerstörung.

Die Sünde und der Tod sind allgegenwärtige Wirklichkeiten. Doch nicht sie definieren das Leben und Schicksal des Menschen und der Schöpfung. Denn in Jesus Christus kann der Mensch die Sünde überwinden und die Freiheit der Kinder Gottes erlangen, wie er auch den Tod durch Ostern zu einem Übergang zur Fülle des Lebens verwandeln kann. Im Licht des Glaubens betrachtet und ernsthaft ihrem Wesen nach verstanden, sind die Sünde und der Tod im Grunde Wirklichkeiten, die uns immerzu wach halten, also im Zustand der Wachsamkeit und des geistlichen Kampfes, um von der Sünde nicht durch die Versuchungen des Körpers, der Welt und des Teufels überwältigt und zu Tode gebracht zu werden. Denn nach der Heiligen Schrift und der tausendjährigen Erfahrung der asketischen Väter verführt uns die Sünde vor allem durch die leiblichen Begierden und Gelüste (1. Joh. 2,16), durch die „gefallene Welt“ und das, was darinnen ist (1. Joh. 2,15) oder durch das direkte Wirken des Teufels, der Verlockungen und Versuchungen über den Menschen bringen kann, die seine Widerstandskraft übersteigen. Nur Gott kann durch Seine Gnade um unseres Glaubens und unserer Demut willen vor diesen teuflischen Versuchungen bewahren. Die dreifache Versuchung des Heilands nach der Taufe im Jordan wiederholt sich auf die eine oder andere Art bei jedem Gläubigen. Daher mahnt uns der heilige Apostel Petrus: „Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.“ (1. Petr. 5,8)

Die Sünde ist eine traurige Wirklichkeit im Leben der Menschen. Sie verdunkelt das Antlitz Gottes im Menschen und pervertiert sein Herz und seine ganzen Gefühle. Sie reißt ihn von dem weg, was droben ist, und zieht auf das herunter, was auf Erden ist (vgl. Kol. 3, 1-2). Gleichzeitig schwächt sie sein Streben zum Tun des Guten. Unsere geistliche ostkirchliche Tradition nimmt die Sünde in dieser biblischen Tradition wahr und erkennt als erstes Stadium des geistlichen Aufstiegs zur Vollkommenheit die Phase der Läuterung bzw. der Reinigung von den Sünden und Leidenschaften, die freilich das ganze Leben andauern kann. Diese Phase ist charakterisiert durch das unablässige Bemühen um Widerstand gegenüber der Sünde oder um die Befreiung von den Leidenschaften, wenn die Sünde durch Wiederholung oder Gewöhnung an sie in uns zur Leidenschaft geworden ist. Der Widerstand gegen die Sünde oder die Befreiung davon verlangt von uns viel Bemühen und eine asketische Anstrengung, die unterstützt wird von häufigem „unablässigem“ Gebet (1. Thess. 5,17), Fasten und starke Selbstbeherrschung durch ein in jeder Hinsicht maßvolles Leben, durch das Ertragen von Leidenserfahrungen, die über uns kommen, und ein fortwährendes Bemühen darin, das Gute an den Nächsten zu tun.

Die Vorstellung der Synergie als Zusammenwirken von Gnade und menschlichem Willen

All dieses asketische Bemühen wird getragen von der Gnade der Hl. Sakramente der Kirche, die uns durch unsere verantwortliche Einbindung in die Ortskirche geschenkt wird, zu der wir gehören. Tatsächlich ist es die Gnade der Hl. Sakramente, jene „göttliche Gnade, die allezeit das Schwache heilt und das Mangelnde ergänzt“ (aus dem Gebet der Priesterweihe), die uns von der Krankheit der Sünde heilt, uns von den Leidenschaften befreit (läutert) und uns hilft, die christlichen Tugenden zu erlangen, d.h. jene guten, gegen die Leidenschaften gerichteten Fertigkeiten.

Gleichzeitig erhält die Gnade unser Leben fortwährend in Christus und vollendet uns. „Alles ist Gnade“, sagen die Väter. In der Tat ist da „e i n Gott, Der da wirkt alles in allem“ (vgl. 1. Kor. 12,6) und genauso wirkt er „beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen“ (vgl. Phil. 2,13). Doch die in uns seit der Taufe eingeschlossene Gnade, die sich immer wieder in der Kommunion an der Hl. Eucharistie erneuert, wartet auf unser Mitwirkung, um in aller Freiheit in uns wirken zu können. Aus Respekt vor dem freien Willen des Menschen wirkt Gott nichts in uns ohne unsere Zustimmung. In diesem Sinne sagt der hl. Apostel Paulus: „so sind wir in allem Gottes Mitarbeiter“ (vgl. 1. Kor. 3,9).

Hier geht es um die „Synergie“ – ein Schlüsselwort der orthodoxen Theologie und Spiritualität – d. h. das geheimnisvolle Zusammenwirken der göttlichen Gnade mit dem Willen des Menschen, der sich im Glauben darum bemüht, die Gebote Gottes zu halten, Askese zu üben und gute Werke zu tun.

Der Glaube ist das Fundament des geistlichen Lebens und die Quelle aller Tugenden. „Der Glaube ist das konzentrierte Gute, und das Gute ist der aktualisierte Glaube“, sagt der hl. Maximus der Bekenner (7. Jh.). Aktualisierter Glaube heißt in erster Linie ein anhaltendes Tun der Tugenden und guter Werke durch asketisches Bemühen. Denn nichts verwirklicht sich aus sich allein heraus, ohne persönliches Engagement und einen besonderen eigenen Einsatz. „So ist der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber“, sagt der hl. Jakobus (vgl. Jak. 2,17.26). Trotzdem dürfen die „Werke des Glaubens“ nicht als meritorische Werke missverstanden werden, durch die wir uns selbst erlösen könnten. Die Erlösung ist ausschließlich das unverdiente Gnadengeschenk Gottes, doch setzen die Askese und die guten Werke als Früchte des Glaubens und der Liebe zu Gott in uns das Wirken der Gnade frei, die uns heiligt und vollendet.

So kann als Fazit festgehalten werden, dass die ostkirchliche Tradition einerseits glaubt, dass „alles Gnade ist“, wir andererseits aber „unser Blut hingeben müssen, um die Gnade zu erlangen“, d.h. dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, derer wir fähig sind, damit die Gnade nicht in ihrem Wirken von uns selbst eingeschränkt oder behindert wird. Dies meint der hl. Apostel Paulus, wenn er festhält: „Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde“ (Hebr. 12,4). Und „jeder der kämpft, enthält sich aller Dinge“ (1. Kor. 9, 25). Daher „bezwinge ich meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde“ (1. Kor. 27). Der Herr selbst bekräftigt: „Von den Tagen Johannes des Täufers bis heute leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es an sich.“ (Mt. 11,12)

Das Gebet

Das Gebet ist der erste und konkreteste Ausdruck der Liebe zu Gott. Es ist die vertraute Gemeinschaft und Einheit mit Gott; das Atmen der Seele in Gott, in dem wir „leben, weben und sind“ (Apg. 17,28). Und weil wir nicht wissen, wie recht zu beten ist, kommt der Geist selbst unserer Schwäche zu Hilfe und „vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen“ (Röm. 8, 26). Doch aufgrund unserer Gleichgültigkeit und der Sünde verhärtet sich unser Herz zunehmend und fühlt das „Seufzen des Geistes“ nicht mehr. Genau deshalb erfordert das Gebet eine Anstrengung, eine besondere Askese, um so verrichtet zu werden, wie es sich gebührt, und zwar mit im Herzen konzentrierter Aufmerksamkeit – oder wie die Väter auch sagen: „mit in das Herz versenktem Verstand“, damit das Gebet unser ganzes Wesen anspricht, das sich im Herzen konzentriert.

In der Tat ist das Herz der Ort, an dem sich wie in einem Brennpunkt alle physischen und psychischen Kräfte und Fähigkeiten konzentrieren, die der menschlichen Person eigen sind. Zu all jenen Fähigkeiten zählen auch der Geist oder der Verstand als „Energien“ des Herzens. Sie gehen immer wieder neu aus dem Herzen hervor und kehren dahin zurück oder erneuern sich in ihm. Ebenfalls im Herzen wohnt seit der Taufe die göttliche Gnade, Christus selbst, die jedoch aufgrund der Gleichgültigkeit und der Sünde in ihrer Wirkung eingeschränkt wird. Denn im Zustand der Gleichgültigkeit oder der Sünde vergisst der Mensch sein Herz. Sein Geist zerstreut sich in den weltlichen Dingen oder steigt auf die Ebene des Sinnlichen herab, indem er die Reizung der Sinne zulässt. Diese Reize wiederum überbeanspruchen den Geist mit der Zeit und führen zu Stress, zum Verlust des seelischen Gleichgewichts, das für ein gesundes Leben doch so notwendig ist.

Der Geist kann nur im Gebet und in der Meditation des Wortes Gottes zur nötigen Ruhe finden. Manchmal sind die Müdigkeit und der Stress so groß, dass der Geist sich beim Gebet nicht mehr konzentrieren kann. Die Rettung finden wir im Gebet der Kirche, das eine besondere Kraft zur Überwindung der kranken Seele besitzt. Die Atmosphäre im Gottesdienst, das gemeinsame traditionelle Singen, die Ikonen, das reiche Ritual der eucharistischen Liturgie, die Kommunion an den Heiligen Sakramenten Christi – all das hilft dem Gläubigen, sich tiefer und leichter zu verinnerlichen und allmählich seine Seelenruhe wiederzufinden. Wichtig ist, dass die Verbindung zur Kirche konstant ist, damit der Gläubige allmählich ein kirchliches Bewusstsein für sich selbst entwickelt und in der Kirche und mit der Kirche lebt. Das bedeutet, dass wir uns tief in unserem Inneren darüber klar werden, dass wir mit Leib und Seele zur Kirche gehören, zu Christus Selbst, mit dem die Kirche sich identifiziert. Denn wir alle sind Glieder am Leib Christi, der die Kirche ist, und gleichzeitig Glieder am Leib unseres Nächsten im wahrsten Sinne des Wortes. Wir alle bilden zusammen e i n e n Leib, eine organische Einheit, in der die Kraft der Liebe des Heiligen Geistes zirkuliert und wirkt (vgl. 1. Kor. 10,17; 12,13; 13,17).

Ohnehin nimmt das Gebet der Kirche im geistlichen Leben eine einzigartige Vorrangstellung ein. Niemand kann allein Christ sein, sondern nur in Gemeinschaft mit anderen. Und die vollkommenste und wahrhafteste Gemeinschaft verwirklicht sich in der Kirche durch die Teilnahme an der Göttlichen Liturgie und den anderen Gottesdiensten, in denen das Sakrament der Erlösung der Welt immer wieder neu aktualisiert wird und durch die wir an Christus teilhaben, der Quelle der Gnade. Das persönlich, private Gebet, zu Hause oder egal wo, inspiriert sich aus dem gemeinschaftlichen Gebet der Kirche und wird von diesem konstant unterstützt und getragen.

Alle, die zu einer reichen Gebetserfahrung gelangt sind, bezeugen, dass es sehr wichtig ist, dass jedes Gebet, sei es ein individuelles Gebet oder ein Gebet in Gemeinschaft mit anderen Betenden, nicht nur den Geist, sondern auch das Herz beanspruchen muss, um zu einem Gebet des Herzens zu werden. Dies ist gar nicht einfach, vor allem nicht für Anfänger, die häufig die schmerzliche Erfahrung machen, dass gerade im Moment des GebetsGeist nicht an sich hält, sondern sich in äußerlichen Dingen zerstreut oder auch kalt bleibt, weil es ihm nicht gelingt, ins Herz „hinabzusteigen“, aus dem die Wärme und die Freude des Gebets hervorgehen.

Der einzige Ausweg ist es, dass wir mit noch größerer Aufmerksamkeit beten – und mit besonders viel Reue für unsere begangenen Sünden. Denn die Reue oder das unruhige Gewissen über begangene Sünden „durchbohrt“ unser Herz, macht es weich und sensibler für die Gegenwart Gottes. Diese großen Praktiker – wir könnten sagen „Meister“ – des Gebets sagen, dass man zum reinen (von fremden Gedanken also freien) Gebet nur allmählich durch viel Beten gelangt. Wir müssen viel beten, sehr viel, um ganz allmählich zum reinen Gebet des Herzens zu kommen.

Im Allgemeinen betet der orthodoxe Gläubige zu Hause, indem er die traditionellen (und zahlreichen) Morgen- und Abendgebete betet, aber auch die Psalmen, oder auch in den Heiligen Evangelien liest. Als Gebete „für alle Fälle“ (das wir also auch bei der Arbeit oder auf Reisen verrichten können…) werden uns kurze Gebete empfohlen wie zum Beispiel das sogenannte „Jesusgebet“: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich über mich Sünder“ oder nur „Herr erbarme dich“, welche dann unzählige Male mit besonderer Aufmerksamkeit wiederholt werden. Ein kurzes, unablässig in Ehrfurcht und Demut wiederholtes Gebet steigt leichter den Weg zum Herzen hinab. Dieses berühmte „Jesusgebet“ hat im Christlichen Osten eine wahrhaft bedeutende Tradition begründet, den „Hesychasmus“, der den Akzent auf das Erlangen des inneren Seelenfriedens (gr. Hesychia) gerade durch das unablässige Gebet legt.

Wichtig ist auch, vom Gebet keine außergewöhnlichen Phänomene zu erwarten oder die Erfüllung aller Wünsche, die wir bei Gott vorbringen. Gott weiß, was wir brauchen und was uns nützlich ist und gibt uns genau das zur rechten Zeit, die Er kennt, also nicht unbedingt wann wir wollen. Das Gebet ist grundsätzlich per se ein großer Segen für unser Leben, für unser seelisches Gleichgewicht und implizit auch für die Gesundheit des Leibes. Das Gebet befreit die Seele von negativen Beschwernissen infolge von Stress, Schwierigkeiten und Problemen des Lebens, und es erfüllt uns mit positiven Energien, die in uns den Mut und die Geduld im Kampf mit diesen Beschwernissen steigern und stärken. Der Gläubige, der viel und „unablässig“ betet und regelmäßig das Wort Gottes meditiert, entwickelt für sich selbst ein positives Denken, er überwindet in sich den Egoismus, er lässt jede Form falscher Selbstliebe und Egozentrik hinter sich und erlangt allmählich ein reines und gutes Herz, das in seine Liebe alle Nächsten in der Menschheit und die ganze Schöpfung integriert. Wer viel und tief betet, ist zugleich immer voller Mut und Optimismus, weil er sich in allem dem Willen Gottes anvertraut und sich nicht umsonst vergeblichen Sorgen hingibt.

Die Kirchenväter sagen, dass der Mensch ein Mikrokosmos ist, dass er in seinem Herzen die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung abbildet und zusammenfasst. Doch diese geistliche, mystische und tiefe Wirklichkeit des Glaubens erfährt und erlebt nur der, der ein reines und einheitliches (nicht gespaltenes) Herz erlangt hat, aus dem die Sünde verschwunden ist und in dem Christus herrscht. Denn die Sünde zersplittert die menschliche Natur und zerstört ihre grundlegende Einheit mit der ganzen Schöpfung Gottes. Im Stand der Sünde ist der Mensch nicht mehr eine Person nach dem Ebenbild der Personen der Heiligen Dreifaltigkeit, sondern er ist dann nur noch ein Individuum und ein Egoist, von seinen Nächsten in der Schöpfung getrennt. Nur befreit von der Sünde durch die Gnade Christi, aber auch durch das Gebet und ein fortwährendes asketisches Bemühen, auf das wir im Weiteren noch ausführlich eingehen werden, verwirklicht sich der Mensch als Person, die von niemand und nichts mehr getrennt ist, weil sie die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung in sich trägt. Alles lebt dann in einem reinen und barmherzigen Herzen.

Was aber ist ein barmherziges Herz? So fragt auch Isaak der Syrer (7. Jh.). Er selbst antwortet: „Es ist ein Herz, das für jede Kreatur brennt, für die Menschen, für die Vögel, für jedes Vieh, für die Teufel und alle Geschöpfe. Und wenn es sich ihrer erinnert oder wenn es sie sieht, dann fließen Tränenströme aus den Augen der Barmherzigen. Aus diesem großen und tiefen Mitleid, welches das Herz des Barmherzigen beherrscht, und aus dem großen Leiden wird das Herz des Menschen traurig und verliert die Geduld, es kann nicht mehr hören oder sehen, dass ein Geschöpf Schaden erleidet oder gekränkt wird. Aus diesem Grund betet er unter Tränen auch für das Vieh und für die Feinde der Wahrheit und für alle die, die ihn immerzu ärgern, genauso betet er auch für die kriechenden Geschöpfe aus seiner großen und unerschöpflichen Güte, die aus seinem Herzen strömt nach dem Ebenbild Gottes. Er betet darum, dass jedes Wesen bewahrt werde und Vergebung erlange“ (Spruch LXXXI).

Die Askese

Damit das Gebet ins Herz vordringe und mit Hilfe der Gnade an dessen Läuterung arbeiten kann, muss es vom Fasten und anderen asketischen Bemühungen wie der ehelichen Enthaltsamkeit (vgl. 1. Kor. 7,5) oder der Proskynese (den Metanien) und der Wachsamkeit über die Sinne begleitet werden. Die orthodoxe Spiritualität ist asketisch par excellence, gerade deshalb, weil sie die ontologische Verwandlung des Menschen nach den moralischen Gesetzen des Evangeliums anstrebt, seine Vergeistigung und nicht seine rein äußerliche Verwandlung. Die geheimnisvolle Einheit aus Leib, Seele und Geist setzt die Teilhabe des Leibes an allen geistigen Akten voraus, wie auch die Seele und der Geist an den Akten des Leibes teilhaben. Ein asketischer Autor sagt, dass der Mensch, wenn er nicht bis in seinen Leib geistlich wird, bis in seine Seele oder seinen Geist fleischlich wird. Doch die Bestimmung des Menschen und der Schöpfung ist gerade die Heiligung oder die Durchdringung von göttlichen Energien, damit Gott sei alles in allem (vgl. 1. Kor. 15,28; Kol. 3,11).

Der Leib kommt zur Vergeistigung durch viel Gebet, das von einer strengen asketischen Disziplin begleitet wird. Dazu zählt zuerst die Wachsamkeit über die fünf Sinne: das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten, durch welche die Versuchungen bzw. die Sünden in die Seele eindringen. Es gibt eine breite geistlich-asketische Literatur über die „Bewachung des Geistes“, d.h. über die Pflicht des Geistes, böse Gedanken aufzuhalten, die von außen kommen, um die Sinne zu sündhaften Begierden zu reizen und die Herrschaft über das Herz zu erlangen. Das Fasten ist ein exzellentes Mittel der Wachsamkeit über den Geist und der Beherrschung der Sinne. Der Verzicht auf Fleisch, alkoholische Getränke und im Allgemeinen auf tierische Produkte zumindest an den von der Kirche empfohlenen Fastentagen und Fastenzeiten (an den Mittwochen und Freitagen des Jahres sowie zu den vier großen Fastenzeiten) helfen dem Geist, respektive dem Herzen, sehr dazu, souverän über die Sinne zu bleiben gemäß der von Gott gegebenen Ordnung und nicht zum, „Sklaven“ der eigenen Sinne zu werden. Auch wenn die Orthodoxie keinesfalls den Leib geringschätzt, der „der Tempel des Geistes“ ist (1. Kor. 6,19) und die Seele nicht gegen den Leib ausspielt, die beide gemeinsam zur Heiligung und Vergöttlichung berufen sind, so ignoriert die Orthodoxie doch nicht die Tatsache, dass der Leib sich im Stand der Sünde dem Geist entgegenstellt, so als ob in uns zwei Gesetze existierten, das des Geistes und das des Leibes, die gegeneinander ankämpfen. Auch wenn Christus uns von diesem von der Sünde provozierten „Dualismus“ befreit hat, so verlängern diese beiden gegensätzlichen Gesetze doch ihre Wirksamkeit in den Getauften, wenn diese nicht real in Christus leben. Das Neue Testament ist grundsätzlich eine Einweisung in den Kampf für den Sieg des Geistes über die Sünde und für ein neues Leben in Christus.

„Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ (Eph. 4,22-24) Dafür sollt ihr „die Glieder, die auf Erden sind, töten“, d.h. die Werke des Fleisches: Unzucht und Ausschweifung, Unreinheit und schändliche Leidenschaft, böse Begierde, Hass, Wut und Habsucht usw. und die Früchte des Geistes leben: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Treue, Sanftmut, Keuschheit usw. Denn diejenigen, die in Christus leben, haben ihren Leib zusammen mit den Leidenschaften und den Begierden gekreuzigt (vgl. Kol. 3,5; Gal. 5, 22-23).

Die „Kreuzigung des Leibes“ oder – in positiven Termini – seine Vergeistigung ist nicht möglich ohne eine systematische Disziplin der Enthaltsamkeit beim Essen und Trinken, bei der Erfüllung der Leidenschaften und Begierden, durch seine Teilnahme am Gebet und anderen asketischen Übungen wie auch durch seinen ganzen Einsatz im selbstlosen Dienst für die Nächsten. „Niemand kann mit vollem Magen beten“, sagt ein monastisches Motto. Denn dann steigt der Geist eher in die Bereiche der Sinne hinab und weckt fleischliche Gelüste, als dass er in das Herz hinabsteigt, wo das Gebet seine Erfüllung finden muss. Das reine Gebet setzt also die angestrengte Bemühung des Leibes durch Beten im Stehen oder Knien voraus, nächtliche Gebetswachen und Metanien (Proskynese), die in uns das Gefühl der Demut und der Reue entwickeln. Und der Dienst an den in Nöten befindlichen Nächsten hilft dem Herzen, gemeinsam mit ihnen ihren Schmerz zu teilen und sich von Egoismus zu befreien. Das Fasten und all die anderen asketischen Übungen, die das Gebet voraussetzt, wie auch die Befreiung von den Leidenschaften sind gleichzeitig ein wahrer Segen für die Gesundheit des Leibes.

Es darf nicht vergessen werden, dass das Fasten und die Selbstbeherrschung in allen Dingen die einzige Lebensform des Widerstands des Christen gegen die Konsumgesellschaft ist, in der wir leben und die Andreea Ricardi (der Gründer der Gemeinschaft San Egidio aus Rom) eine „Diktatur ohne Diktator“ nennt. Der „Diktator“ äußert sich im Zeitgeist dieser materialistischen und bis zum Exzess säkularisierten Gesellschaft.

Das Ertragen von Leidenserfahrungen

Die Väter der asketischen Tradition der Kirche sagen, dass Gott den Menschen auf zwei Wegen zur Vollendung führt: auf dem positiven Weg der Vorsehung oder auf dem negativen Weg des Gerichts, die sich immerzu in unserem Leben abwechseln können. Die Vorsehung ruft den Menschen dazu auf, sich auf dem Weg zur Vollendung selbst zu engagieren, indem sie ihm die Schönheit des Guten und die göttlichen Sinngehalte der Schöpfung vor Augen stellt bzw. durch innere Impulse des Gewissens und im Allgemeinen durch alles, was Gott für uns tut. Der Weg des Gerichts besteht in Leidenserfahrungen und schmerzhaften Prüfungen, die als Konsequenz aus den Sünden über uns kommen. „Wer Gott liebt, der wird von der Vorsehung vergöttlicht, während derjenige, der das Leibliche liebt, vom Gericht daran gehindert wird, dass er zum Fluch wird“, sagt ein Vater. Dies, weil „Gott will, dass alle Menschen geheilt werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim. 2,4). Doch nicht alle Menschen antworten immer auf die Liebe Gottes mit Glauben und ihrer Liebe. Einige weisen die Liebe Gottes zurück, andere vernachlässigen sie, andere versuchen, sie nach ihrem eigenen Gusto zu instrumentalisieren. Sie alle leiden unausweichlich, denn nur die reine Liebe schenkt uns wirkliche Erfüllung: „Du hast uns auf Dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir“, sagt der heilige Augustinus. Die Sünde ist im Grunde die Zurückweisung oder Pervertierung der Liebe. Alle Leidenserfahrungen des Menschen haben eine Verbindung zur Sünde, die personal oder kollektiv, bewusst oder unbewusst begangen werden kann, willentlich oder sogar unwillentlich. Aufgrund der ontologischen Einheit der Menschheit hat jede Sünde Auswirkungen auf die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung, wie sich auch jedes vollbrachte Gute positiv auf alle auswirkt. Wenn wir von der „Erbsünde“ sprechen, die auf alle Menschen übergeht, dann dürfen wir dies nicht als einen „juridischen“ Vorwurf der Sünde an uns missverstehen, sondern als ein Erbe aus der von der Sünde geschwächten Natur der ersten Menschen. Denn die Sünde schwächt die menschliche Natur, so wie die Tugend sie heilt und stärkt. Und die Kinder erben das Wesen der Eltern, der Großeltern usw. mit all seinen Qualitäten aber auch seinen Defekten infolge der Sünde. Denken wir nur an das Phänomen des Alkoholismus oder der Geburtenkontrolle (Abtreibungen, Verhütungsmittel), die tragische Auswirkungen sowohl auf die Eltern als auch auf die Kinder haben. Der drastische Bevölkerungsrückgang unter den Christen führt allmählich aber sicher zu ihrem Verschwinden.

Sicher dürfen wir hier nicht übertreiben und das Leid rechtfertigen oder grundsätzlich einen Tun-Ergehens-Zusammenhang im Sinne einer direkten Verbindung von Sünde und Leid herstellen und behaupten, vor allem wenn es um das Leiden etwa von Kindern geht, die noch keine persönliche Schuld auf sich geladen haben. Diese leiden um der Sünden anderer willen: der Eltern oder der Vorfahren, denn Gott „sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!“ (Ex. 34, 7). Gott sagt selbst von sich: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten“ (Dtn. 5,9-10). Wir kennen aber auch die Worte des Herrn über den von Geburt an Blinden: „Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“ (Joh. 9,3). Aber wenn wir das Leiden nicht begründen können, um wie viel weniger noch können wir Gott für seine Existenz verantwortlich machen.

Die notwendige und angemessene geistliche Haltung gegenüber dem Leid (und im Allgemeinen gegenüber allen Leidenserfahrungen, mit denen der Mensch sich konfrontiert sieht) ist es, dieses zu akzeptieren in dem Bewusstsein, dass wir für unsere Sünden leiden und dass es von Gott zugelassen wird mit einer pädagogischen, läuternden und sogar heiligenden Rolle. Tatsächlich bringt nichts den Menschen Gott näher als im Glauben ertragenes Leid. Im Leiden und in Unglücksfällen macht der Mensch die Erfahrung seines ontologischen Unvermögens, seiner Sündhaftigkeit und Irrungen, wie auch seiner totalen Abhängigkeit von Gott. Nur dann kann der Mensch sein eigenes Ich ablegen und sich in allem Gott übergeben und anvertrauen. Nur dann entdeckt er die unendliche Liebe Gottes zu sich und betet mit Tränen der Reue wegen seiner Sünden. Und Gott belohnt ihn mit Seinem göttlichen Trost, der süßer ist als alle Vergnügungen der Welt, mit Zuversicht und Hoffnung. So wird das Leid zum Anlass zur Umkehr zu Gott, zur vertieften Einsicht in den Sinn und die tiefere Bedeutung des Lebens und der Erlösung. Und Gott wird verherrlicht in mit Glauben ertragenem Leid. Ein Leid, das nicht im Glauben ertragen wird, bleibt ein sinnloses, quälendes, verzweifeltes und nicht erlösendes Leid.
 
Der Dienst an den Nächsten

Wir haben gesagt, dass das „Leben in Christus“, das allen Getauften eigen ist, auf die ontologische, nicht nur moralische Verwandlung des Christen bis hin zu seiner Identifikation mit Christus hinzielt (Gal. 2,20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“), der in Sich alle Menschen und die ganze Schöpfung zusammenfasst. Christus ist eines Wesens mit dem Vater und dem Heiligen Geist nach Seiner göttlichen Natur und eines Wesens mit uns Menschen nach Seiner menschlichen Natur. Das konkrete Zeichen unserer Vereinigung mit Christus (der Tatsache, dass wir auf reale und nicht nur potentielle Weise mit Ihm vereint sind) ist das allmähliche Erlangen eines „mitleidenden Herzens“ (Hl. Isaak der Syrer, 7. Jh.), das in sich alle Menschen einschließt. Ein mitleidendes, liebendes oder barmherziges Herz ist das ontologische Fundament des Dienstes an den Nächsten, die nicht nur von uns unterschiedene Individuen sind, sondern eigene Glieder unseres Leibes und Glieder des Leibes Christi (vgl. 1. Kor. 10,17; 12,12-14). Der Gläubige, der ein mitleidendes Herz erlangt hat, wird sich auf sehr entschiedene Weise in den Dienst der Nächsten stellen, mit denen Christus sich identifiziert. Jesu Rede im Kapitel 25 des Matthäus-Evangeliums ist ein beeindruckendes Bild des Jüngsten Gerichts, und zwar genau nach dem Kriterium des Dienstes am Nächsten, der sich nicht nur auf einfache mildtätige Handlungen reduziert, sondern das Leiden in all seinen Aspekten umfasst und einschließt, unter denen der geistliche Aspekt zweifellos der wichtigste Aspekt ist. Jedes Leid ist zuerst ein geistliches Leid, das zur Linderung danach ruft, geteilt zu werden. Dabei ist es unmöglich, jemandes Schmerz zu teilen, wenn du kein gutes und mitleidendes Herz hast. Es versteht sich von selbst, dass von allen, die sich beruflich und ehrenamtlich in der christlichen kirchlichen Diakonie engagieren und bemühen, eine große Beteiligung am Leben der Kirche zu erwarten ist: Sie sollen eine enge Beziehung zum Altar haben, tief im Gebet und persönlicher Askese verwurzelt sein, um dieses „mitleidende Herz“ zu erlangen. So wird ihr Dienst nicht nur eine professionelle Motivation, sondern auch eine spirituelle, mystische Dimension haben.

Doch ein solches mitleidendes Herz kann auch durch den Dienst an den Nächsten selbst erlangt werden. Denn je mehr wir uns in den Dienst für die Nächsten stellen und je mehr Gutes wir tun, umso mehr wächst in uns die Liebe zu Gott und zu den Nächsten. Und den Nächsten zu dienen bedeutet, immer für sie da zu sein, ihnen zu helfen, wo sie es nötig haben, für sie zu beten, sie auf dem Weg zum Guten geistlich zu beraten. Die heiligen Wüstenväter (Neptiker oder Väter der Wachsamkeit), von denen wir die berühmten „Apophthegmata“ haben (Weisungen in Form kurzer Maximen und Sinnsprüche) haben sich zwar aus der Welt zurückgezogen, um durch Gebet und Fasten zu einem heiligen Leben zu kommen (nicht aus egoistischem Antrieb, sondern für die ganze Welt und alle Menschen, die sie in ihr Herz eingeschlossen hatten), schätzten den Dienst am Nächsten, vor allem an den Kranken, trotzdem höher ein als das Gebet und das Fasten, wenn beide nicht zur Liebe hinführen, weil sie falsch verstanden und praktiziert werden. Dazu ein „Apophthegma“ in diesem Sinne: „Ein Mönch fragte einen älteren Bruder und sagte: Vater, wenn von zwei Brüdern einer schweigsam in seiner Zelle sitzt und mit großer Selbstzügelung die ganze Woche fastet und täglich viel arbeitet, ein anderer aber den Kranken im Krankenlager mit Eifer und Hingabe dient, wessen Arbeit wird von Gott mehr geliebt und mit größerem Wohlwollen angenommen? Der ältere Mönch antwortete: wenn jener, der in seiner Zelle sitzt, viel betet und sechs Tage die Woche fastet, jedoch der Liebe und des Mitleids gegenüber den Brüdern entbehrt, kann niemals dem gleichen, der den Kranken dient, auch wenn er sich an seinen Nasenlöchern aufhängt“ (Pateric, Kap. 12, „Über die Liebe“).

Es kann also vorkommen, dass einige der sonst im Gebet fleißigsten Christen nicht zur Nächstenliebe fähig sind, die sich in den Werken der Barmherzigkeit äußert, von denen auch im Evangelium nach Matthäus im Kapitel 25 die Rede ist. Das bedeutet, dass ihr Gebet noch nicht zum Herz „hinabgestiegen“ ist, um es zu verwandeln. Es besteht also eine reale Gefahr, dass wir uns an ein formales und oberflächliches Gebet gewöhnen, welches das Herz nicht verwandelt, weil es nicht bis ins Herz vordringt, sondern nur auf den Lippen oder im Kopf bleibt.

II. Antworten auf die gestellten Fragen

 Welche Rolle spielt die Diakonie im Leben der Menschen aus orthodoxer Sicht?

Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass nach unserem Verständnis die Diakonie ein Ausdruck des Glaubens und der Liebe zu Christus und unseren Mitmenschen ist, mit denen sich Christus identifiziert. Es gibt keinen Glauben ohne Liebe und keine Liebe ohne Werke der Liebe an den Nächsten. Aufgrund unserer ontologischen Einheit als Menschheit brauchen wir alle alle, keiner ist sich selbst genug, niemand kann autark leben. Es gibt eine persönliche oder individuelle „Diakonie“, die jeder Christ für sich selbst genommen in seinem eigenen persönlichen und familiären Umfeld (an Eltern, Kindern, Großeltern usw.), in der Kirchengemeinde, am Arbeitsplatz usw. ausübt durch gegenseitige Hilfe,  durch Beratung, Fürbittgebet, etc. Diese Art der Diakonie gehört zur Pflicht aller Christen und wird je nach der Tiefe des Glaubens und der Lebenseinstellung des Einzelnen ausgeübt und erfüllt. Doch es gibt von Anfang der Kirche an auch schon eine organisierte Diakonie, die den Dienst und das Amt des „Diakonats“ begründet hat, die erste Stufe des priesterlichen Amtes. Das Diakonenamt hatte die besondere Aufgabe, die Bedürftigen in der Gemeinde zu unterstützen. Wenn ein Diakon später zum Priester oder Bischof geweiht wird, dann heißt das nicht, dass er nicht auch weiter Diakon bleibt, also Diener für die Bedürfnisse der Gemeinde, doch dient er dann auf einer anderen Stufe. In der Kirche sind alle Diener, nach dem Vorbild Christi – dem Diakon par excellence (vgl. Markus 10,45).    

Eine bereits stärker institutionalisierte Diakonie, die für alle Diakonie bis heute den Ursprung bildet, ist das Werk des hl. Basilius des Großen (330-397). Die von ihm in Caesarea Kappadokien gegründete diakonische Einrichtung, bekannt unter dem Namen „Vasiliada“, umfasste ein Hospital, ein Altenheim, ein Waisenhaus, eine Leprastation und weitere Abteilungen. Der hl. Basilius selbst kümmerte sich vor allem um die Leprakranken. Diese Form der institutionalisierten Diakonie verbreitete sich in der ganzen christlichen Welt, in Ost und West.

Welche Rolle nimmt die „Spiritualität“ ein bei der dynamischen Entwicklung der diakonischen Einrichtungen der Orthodoxen Kirche?

Das Prinzip der Organisation von diakonischen Einrichtungen ist in der Orthodoxen Kirche dasselbe wie in anderen Kirchen. Die Fürsorge für die Kranken, Alten, Waisen und alle, die an diesem oder jenem leiden, ist ein Gebot des Evangeliums. Auf dem Gebiet der Diakonie sollten alle christlichen Kirchen sich regelmäßig treffen und austauschen sowie grundsätzlich zusammenarbeiten, weil das Leid jenseits jeder konfessionellen Barriere anzutreffen ist. Die Orthodoxe Kirche kann mit ihrer so reichen „Spiritualität“ auch die anderen Kirchen inspirieren, sowohl was das geistliche Leben im Allgemeinen betrifft, als auch was die Organisation der diakonischen Einrichtungen betrifft, damit diese nicht vom Zeitgeist oder der allgemeinen Säkularisierung erfasst werden, sondern von christlichem Geist geprägt bleiben. Die Wiedergeburt des geistlichen Lebens nach dem Fall des Kommunismus in den Ländern Ost- und Südosteuropas hat auch zu einer dynamischen Entwicklung des philanthropischen Dienstes der Orthodoxen Kirche und zur Gründung und zum Aufbau zahlreicher diakonischer Werke unterschiedlichster Art geführt. Gewiss spiegeln diese in ihrer materiellen und personellen Ausstattung den Lebensstandard der Gesellschaft in den jeweiligen Ländern. Doch die Qualität des Dienstes mit seiner Akzentsetzung in der geistlichen Dimension kann gewiss einige materielle Defizite ausgleichen.

Was kann die Diakonie von der orthodoxen „Spiritualität“ lernen?

Gerade diese besondere Akzentsetzung im Bereich der geistlichen Dimension des diakonischen Dienstes. Die Maxime von Wilhelm Löhe – „Alle Diakonie geht vom Altar aus“ – muss das Leitmotiv aller sein, die sich in der Diakonie der Kirche engagieren. Ein diakonischer Dienst, dem der christliche Geist oder sogar der Glaube fehlt, kann das Leid nur in bestimmte Richtung lindern. Und wenn das Leiden seelischer Natur ist, hilft ein diakonischer Dienst ohne Geist überhaupt nicht. Jeder Mensch braucht Verständnis, Zuspruch und Trost von seinen Nächsten, vor allem wenn er sich in einer schwierigen Lage befindet. Ein geistlicher Mensch, der ein mitleidendes Herz hat, vermittelt den Menschen in seiner Umgebung positive Energien, die mit denen er selbst aufgeladen ist und die er in sich trägt und weitergibt. Das Wort eines geistlichen Menschen, sein Gebet oder auch nur seine Gegenwart wird bei den Menschen in seiner Umgebung sofort spürbar. Und das umso mehr, wenn ein solcher Mensch sich zu leidenden Mitmenschen herabneigt. Die orthodoxe Spiritualität lehrt uns grundsätzlich, wie wir geistliche Menschen werden können.

Existieren Brücken der Verständigung zwischen der ostkirchlichen und der westkirchlichen „Spiritualität“?

Ganz sicher gibt es eine Menge an Konvergenzen zwischen beiden Ausformungen und Praktiken der „Spiritualität“, weil diese über ein Jahrtausend Prägungen der Frömmigkeit der Einen, Ungeteilten Kirche waren. Doch die späteren Differenzen in der Lehre haben das christliche Leben im Abendland geprägt, indem sie dessen mystische Dimension verarmt und den Akzent auf rationales Denken gelegt haben zum Nachteil des Geheimnisses des Glaubens. Während im Osten beim Glauben immer auf das Herz Priorität gelegt wurde, also auf das mystische Verstehen der Gemeinschaft mit Gott im Gebet und in der anbetenden Verherrlichung des Geheimnisses der Allerheiligsten Trinität, ist die scholastische Theologie im Westen in einen übertriebenen Intellektualismus abgeglitten, der auch das christliche Leben beeinflusst und seiner mystischen Dimension beraubt hat, die bis dato vorherrschte. Ich glaube, dass auch dieses scholastische, rationalistische Denken die Reformation hervorgerufen hat. Die neuprotestantische Theologie indes seit der Aufklärung und dem Rationalismus hat dieses Denken noch mehr auf die Spitze getrieben.

Immerhin ist das katholische Mönchtum dem geistlichen Leben des ersten Jahrtausends treuer geblieben als die Theologie. Und die protestantischen Diakonissen-Schwesternschaften haben später ebenfalls versucht, diesen Geist wiederzuentdecken. So bleibt das Mönchtum im Osten und im Westen der Referenzpunkt für die christliche Spiritualität in ihrem Wesen.

In einer hyperrationalistischen und hypertechnisierten Welt wie der unseren, die von sich aus jedes Geheimnis ausschließt, braucht jeder Mensch umso mehr die Transzendenz und das Geheimnis, ohne die der Mensch nicht leben kann. Erlösung kann uns nur durch eine Rückkehr ad fontes gelingen, zur Mystik und Spiritualität, wie sie die ersten Christen gelebt haben.   

Welche gemeinsamen Aktivitäten gab es in den letzten Jahren zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Diakonie Neuendettelsau?

Aufgrund der besonderen ökumenischen Offenheit der Rumänischen Orthodoxen Kirche konnte die Diakonie Neuendettelsau auf Initiative ihres Rektors Pfr. Prof. Hermann Schoenauer im Frühjahr 2007 ein Protokoll der Zusammenarbeit im Sozialbereich zwischen der Diakonie und dem orthodoxen Erzbistum von Tomis (Konstanza) abschließen. Eines der Ziele dieser Kooperation war auch die Einrichtung eines Studiengangs „Europäisches Sozialmanagement“ an der Orthodoxen Theologischen Fakultät der Ovidius-Universität von Konstanza. Die Diakonie hat außerdem mehrere theologische Begegnungen und Konsultationen zu Themen der Diakonie zwischen Vertretern der Diakonie und der Rumänischen Orthodoxen Theologie organisiert. Die wichtigste fand im April 2008 statt zum Thema: „‚Alle Diakonie geht vom Altar aus“ – Die Sozialarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Rumänischen Orthodoxen Kirche im ökumenischen Dialog“. An dieser Konsultation haben mehrere orthodoxe Bischöfe sowie Theologen, Pfarrer, Sozialwissenschaftler und -experten und Mitarbeiter diakonischer Einrichtungen aus beiden Ländern und Kirchen teilgenommen. Bei dieser Gelegenheit wurde auch eine gemeinsame Erklärung verabschiedet: die „Charta Oecumenica Diaconica“. Aus dieser Konsultation heraus entstand das Buch „Alle Diakonie geht vom Altar aus. Theologie und Praxis der Diakonie im ökumenischen Dialog“ (368 S.). Es dokumentiert sämtliche Vorträge zweisprachig. Es gab gegenseitige Studien- und Austauschreisen: Vertreter der Diakonie Neuendettelsau besuchten Rumänien, vor allem das Erzbistum Tomis in der Dobrudscha und das Bistum Sălaj in Siebenbürgen, Vertreter dieser beiden Bistümer besuchten Neuendettelsau und besichtigten die Einrichtungen der Diakonie.

Am 11. Januar 2010 begannen von S. E. Erzbischof Teodosie von Tomis entsandte Nonnen einen drei Jahre dauernden Diakonie-Kurs in Neuendettelsau. Ich möchte hier die umfangreiche Aufbauhilfe erwähnen, welche die Diakonie Neuendettelsau dem Erzbistum Tomis für seine Sozialprojekte zukommen ließ.

Ich freue mich sehr, dass unsere Metropolie von Nürnberg aus einen positiven Beitrag zu all diesen Projekten und Maßnahmen leisten konnte. Das entspricht wesentlich unserer Rolle als Brücke zwischen Rumänien und Deutschland, zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und den Kirchen dieses Landes. Denn für alle sind das gemeinsame Gebet und der Dienst am Nächsten wichtig, „damit die Welt glaube“.  
 
Wie groß sind die Unterschiede im politischen und sozialen Engagement zwischen Rumänien und Deutschland?

Die Unterschiede sind sehr groß. Das erklärt sich auch aus der unterschiedlichen Geschichte beider Länder, die unterschiedliche Mentalitäten bewirkt hat. Vergessen wir nicht, dass die Landesteile, die heute zu Rumänien gehören, nur von 1877 (Fürstentümer Moldau und Walachei) resp. 1918 (Siebenbürgen) bis 1944 und seit 1989 wieder in Freiheit leben. Rumänien war und bleibt ein Agrarland dank der großen und für die Landwirtschaft sehr guten Flächen, auch wenn das Land wegen des Mangels an Maschinen und Ausstattung weit unter dem möglichen Potenzial an Produktion bleibt. Die massive Industrialisierung, die das kommunistische System von 1947 bis 1989 vorangetrieben hat, ist nach der Wende schrittweise wieder zusammengebrochen durch den Übergang zur Privatwirtschaft, die zwar einen nominellen Aufschwung erzeugt hat, aber ganze Wirtschaftszweige sind zum Erliegen gekommen. Das liegt auch an mangelnder Effizienz und fehlender Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Zu diesen negativen Entwicklungen kommt noch die Korruption, vor allem auf politischer Ebene. Armut und Perspektivlosigkeit haben dazu geführt, dass viele Rumänen das Land verlassen haben, darunter zahlreiche junge Spezialisten in wichtigen Domänen wie Mediziner und Computerspezialisten. Aufgrund der großen Armut insgesamt ist das Sozialsystem mehr als schwach. So hat die orthodoxe Mehrheitskirche in den letzten Jahren auch eine Vielzahl an Sozialeinrichtungen aufgebaut und arbeitet an vielen sozialen Projekten, doch auf nationaler Ebene stellen diese nicht mehr als einen Tropfen auf dem heißen Stein der sozialen Nöte und Probleme dar.   

Woher stammen die Beschäftigten der Diakonie in Rumänien?

Nach 1989 hat die Orthodoxe Kirche ihre theologische Ausbildung durch die Gründung neuer Studienrichtungen inhaltlich ausgebaut und diversifiziert neben der traditionellen Studienrichtung „Pastoraltheologie“, der künftige Priester vorbereitet. Zu diesen zählt auch die Abteilung „Theologie – Sozialassistenz“ für die Studenten, welche sich auf einen künftigen Beruf im Bereich der Diakonie vorbereiten.
 
Welche Rolle spielen die Klöster in der Diakonie?

Gastfreundschaft ist eine Charaktereigenschaft der Rumänen. Die Klöster machen hiervon keine Ausnahme. Im Gegenteil: alle Gläubigen, die zu Klöstern pilgern, finden dort nicht  nur „geistliche Nahrung“, sondern auch Kost und Logis für die Dauer ihres Aufenthaltes. Das ist für sich schon ein ziemliches soziales Unterfangen, wenn man an die große Zahl der Gläubigen denkt, die das ganze Jahr über an den Sonntagen und Feiertagen und nicht nur dann unsere vielen Klöster besuchen. Nach 1989 haben einige Klöster auch soziale Einrichtungen gegründet. Trotzdem sind die orthodoxen Gläubigen der Meinung, dass die Klöster in erster Linie eine geistliche Mission besitzen. Die geistlichen Probleme der Menschen sind oft drückender als ihre materiellen Bedürfnisse. Die Möglichkeit, seelische Hilfe durch das Gebet und den Rat der Mönche und Nonnen zu finden, ist für das seelische Gleichgewicht im Leben besonders wichtig.

Wie sehen Sie die Möglichkeit eines Austauschs rumänischer und deutscher Studenten im Bereich der Diakonie?

Die Kirchen in Deutschland haben eine sehr ausgeprägte Tradition im Bereich der Diakonie. Die deutsche Ordnung und Disziplin sind weltberühmt. Genauso die Ernsthaftigkeit und der Fleiß der Deutschen. Weil hier in Deutschland viel gearbeitet und produziert wird, konnte sich hier ein Sozialsystem entwickeln wie in nur wenigen Ländern weltweit. Daher war es in der Vergangenheit für jeden und besonders für die ehemals kommunistischen Länder sehr nützlich, die Diakonie der Kirchen in Deutschland kennenzulernen. Ich freue mich sehr über das Angebot von Rektor Schoenauer und der Diakonie Neuendettelsau an mehrere Nonnen aus Rumänien, hier einen dreijährigen Kurs zur Diakonie zu absolvieren. Wenn dieser erste Kurs ein Erfolg wird, dann lässt sich dies sicher fortsetzen, wie auch Rektor Schoenauer angekündigt hat. Sicher ist es auch denkbar, das auch junge Menschen aus Deutschland zu einem Austausch nach Rumänien kommen, auch wenn die rumänischen Sozialeinrichtungen in praktischer Hinsicht vor allem bezüglich ihrer Ausstattung nicht im entferntesten über die Ausstattung verfügen, derer sich die deutschen Einrichtungen erfreuen.

Wie können wir gemeinsam unsere Mission im Blick auf Diakonie in unserem gemeinsamen europäischen Haus erfüllen und weiterentwickeln?

Die Weiterentwicklung der Diakonie auf europäischer Ebene liegt nicht nur in unserer eigenen Entscheidung. Es dürfte deutlich sein, dass wir als Kirchen auf europäischer Ebene immer wieder darauf drängen müssen, dass die Europäische Union nicht nur eine Wertegemeinschaft und ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ist, sondern auch auf vergleichbare Lebensstandards hinwirkt. Natürlich lassen sich keine vollkommen gleichen Lebensstandards schaffen, doch Politik und Wirtschaft sollten die zunehmende Armut in der EU selbst in reichen Ländern wie Deutschland ernst nehmen und massive soziale Schieflagen auch ernsthaft bekämpfen. Die EU versteht sich zumindest laut ihren offiziellen Dokumenten auch als europäischer Sozialstaat. Entsprechend sollten Mindeststandards im Sozialbereich erfüllt sein. Auf die EU als ganze kommen in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der internationalen Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung noch große Migrationsbewegungen vor allem aus Afrika zu. Die internationale Armuts- und Armutsmigration stellt ein Problem dar, das noch viel zu wenig im Fokus der internationalen Politik steht. Hier haben die Kirchen gemeinsam eine große Aufgabe und eine wichtige Verantwortung, auf EU-Ebene wie auf nationaler Ebene Jesu Option für die Armen, Benachteiligten und sozial Schwachen auch als politische Forderung hörbar zu machen und deren Umsetzung einzuklagen. Außerdem sollten die Kirchen für eine Gesetzgebung auf nationaler wie EU-Ebene eintreten, die die notwendigen Rahmenbedingungen für die Sozialarbeit und die Diakonie der Kirchen schafft. Nicht nur Investoren und die Wirtschaft brauchen schließlich finanzielle Förderung, sondern auch die Kirchen und andere Sozialakteure und –institutionen, die dem Staat soziale Aufgaben nach dem Prinzip der Subsidiarität abnehmen.
 

(Übersetzung: Pfarrer Dr. Jürgen Henkel, Selb-Erkersreuth)