Koordinaten der christlichen Mission in Europa heute (Kloster Caraiman, 29.07.2019)

Vortrag gehalten von Metropolit Serafim am 15. Dialogtreffen der Rumänischen Orthodoxen Kirche mit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kloster Caraiman, Rumänien, 29. Juli – 1. August 2019. Das Thema der Konferenz ist:Die missionarischen Herausforderungen unserer Kirchen in der säkularisierten Gesellschaft”.

Im Jahr 1999 war ich zu einer vom Weltkirchenrat organisierten Konferenz in Amersdorf in Holland eingeladen, um über ein ähnliches Thema wie das unsrige zu sprechen, und zwar „Unser Verständnis der christlichen Mission im Europa von heute”.

Diese Konferenz richtete sich an ein breites Publikum, nicht nur an theologische „Spezialisten” wie uns heute und hier. Ich sprach damals über die zentrale Bedeutung Jesu Christi für unsere Mission und über die Persönlichkeit des Missionars als Medium der Weitergabe der erlösenden Wahrheit, aber auch über den aktuellen europäischen Kontext der Mission. Wenn ich auch alles, was ich damals über den Erlöser Christus als Subjekt der Mission und über den christlichen Missionar vor 20 Jahren gesagt habe, heute wiederholen könnte, so könnte ich heute kaum dasselbe über den europäischen Kontext sagen, der sich im Laufe der Zeit gravierend gewandelt hat.

Vor 20 Jahren befand sich Europa in seinem Einigungsprozess nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Die von der Herrschaft des Kommunismus befreiten osteuropäischen Länder hofften auf einen materiellen Wiederaufbau und eine spirituelle Wiedergeburt durch ihren Beitritt zur Europäischen Union. Heute hat der Enthusiasmus für das vereinte Europa spürbar abgenommen, und das nicht nur in Ost- und Südosteuropa, das in der Zwischenzeit vor allem zu einem Umschlagplatz für westliche Waren und einer Ressource für Wirtschaftsmigranten geworden ist, die  als Billigarbeitskräfte eingesetzt werden, sondern auch im Westen. Denken wir als Beispiel nur an den „Brexit“ und zentrifugale Tendenzen in einigen Staaten der Europäischen Union. Hinzu kommen der bis zur Paranoia grenzenlose Liberalismus im Blick auf die Bestimmung von Familie und Ehe, das Phänomen der Globalisierung und der Migration, die die europäische Gesellschaft und auch die christlichen Kirchen spalten.

Wir erleben heute in Europa zweifellos die größte Krise des Christentums in seiner ganzen Geschichte, ausgelöst vom Materialismus und Individualismus der Industriegesellschaften, aber auch jener heutigen liberalen und permissiven „Moral“, die zur spirituellen Versklavung führt. Unsere Welt verarmt spirituell immer mehr, je weiter sie sich technisch und wissenschaftlich fortentwickelt. Wir müssen schmerzlich feststellen, dass unser Weltwirtschaftssystem auf Egoismus basiert. Wir produzieren immer mehr, um den Wunsch nach immer mehr Produkten zu befriedigen, um Bedürfnisse zu stillen, die wir erst suggerieren und stimulieren bis hin zur Pathologie der geschlechtlichen Entgrenzung und Zügellosigkeit. Das Prinzip des Lustgewinns ist das Fundament des wirtschaftlichen Liberalismus. Gefangen in der Imagologie dieser Welt, seiner geistlichen Fundamente und der Erfahrung des Lebens in Christus beraubt, verliert der moderne Mensch nicht nur den Sinn für gut und böse, sondern auch das Gespür für die Sünde, also für seine Verantwortung gegenüber Gott. Heute wissen nur noch wenige Menschen um die unveränderliche Wahrheit, die das Christentum bezeugt, aus der aber die ewigen Moralgesetze und auch die Gesetze der Natur hervorgehen. Viele seit ewigen Zeiten für alle Welt gültige Wahrheiten werden heute nicht einmal mehr im Entferntesten anerkannt wie etwa: Wie definiert sich eine Familie? Was bedeuten in der Familie Mann und Frau? Die grundlegende Wahrheit, dass sich die naturgemäße Familie als Vereinigung aus Mann und Frau besteht, wird von Gendertheorien relativiert, mit der Single-Familie einer Person mit Kind oder Kindern gleichgesetzt oder auf einen Vertrag reduziert, der jederzeit und sooft gewünscht aufgekündigt werden kann. Die Globalisierung und die Säkularisierung dringen machtvoll auch in die Kirche ein!

Hier können wir auch en passant an das Wachstum des Islam in Europa denken, der durch die Geburtenrate der Muslime und die Einfachheit seines Dogmas und seiner Moral an Zulauf gewinnt. Dem modernen Menschen, der alles durch den Filter seines Verstands sieht und wahrnimmt, kann das Christentum als zu mystisch und in seiner Lehre und Praxis zu komplex erscheinen.

Das Phänomen der Globalisierung beschäftigt vor allem uns Rumänen in ganz besonderem Maße, haben wir doch die höchste Rate an Wirtschaftsmigration unter allen europäischen Völkern: über sieben Millionen Rumänen haben unser Land seit der Befreiung von der kommunistischen Diktatur verlassen. Das stellt über ein Drittel der Bevölkerung dar. Rumänien ist ein Land, das in Auflösung begriffen ist! Meine Aufgabe und die Aufgabe unserer Priester im Westen bestehen darin, unsere überall verstreuten Landsleute ausfindig zu machen bis in die kleinsten Dörfer und ihnen zu helfen, ein geistliches „Zuhause” in einer Pfarrgemeinde zu finden. Wobei wir unsere Pfarreien nur unter großen Opfern aufbauen können aufgrund des Fehlens gottesdienstlicher Räume und finanzieller Mittel. Aktuell gehören zu jeder rumänischen Diasporagemeinde in Deutschland durchschnittlich 10.000 Getaufte! Oft kommt es vor, dass das vorrangigste Bindemittel nicht einmal so sehr die Liturgie ist, sondern die rumänische Sprache. Wir freilich haben ihren Glauben zu fördern und zu stärken, wir haben ihnen neu beizubringen was es heißt, Christ zu sein: deinem Nächsten zu helfen, dich mit Christen anderer Traditionen zu treffen und die religiöse und ethnische Identität eines jeden zu respektieren und zu schätzen. Hier sind wir auch unseren katholischen und evangelischen Brüdern und Schwestern im Glauben zu Dank verpflichtet, bei denen wir Verständnis und Hilfe für unseren Dienst finden.

Die zunehmende Armut, die sozialen Ungerechtigkeiten und die galoppierende Entwicklung hin zu einer ausschließlich materialistischen Gesellschaft, die nicht mehr wie noch vor 20 Jahren andere – meist fernöstliche – Spiritualitäten, sondern schlicht und ergreifend nur noch immer mehr sinnliche Befriedigung sucht, hat zu einer globalisierungskritischen konservativen Gegenbewegung geführt, allerdings nicht im positiven Sinne, sondern in einem negativen und fundamentalistischen Sinne. Diese Strömung ist in Ost- und Westeuropa gleichermaßen sichtbar.  

Doch wir dürfen als Christen nicht pessimistisch sein. Gott wirkt auch heute auf geheimnisvolle Weise, vielleicht mehr als zu anderen Zeiten, denn „wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger” (Römer 5, 20). Und so können wir bei vielen Menschen, gerade auch jungen Menschen, ein „Bedürfnis nach Religion” erkennen, eine Suche nach dem Sinn des Lebens, der aus nichts anderem bestehen kann als aus Gott. Und solche jungen in der Kirche engagierten Menschen sind dann viel engagierter in ihrem gelebten Glauben und ihrem Respekt vor der Tradition als manche älteren Menschen. Das persönliche Suchen nach Gott wird auch bei vielen Menschen sichtbar, die sich in Nöten befinden. In schweren Prüfungen sucht der Mensch Gott mehr als unter normalen Umständen, erhofft er sich doch von Ihm Hilfe und Rettung aus allerlei Not. Und Gott hilft und stärkt jene, die ihre Hoffnung auf Ihn setzen: „Denn keiner wird zuschanden, der auf dich harret” (Psalm 25, 3).    

Wenn früher in einer traditionellen christlichen Gesellschaft der Priester darauf wartete, dass die Gläubigen zur Kirche kommen, um ihnen Christus in Seinem Wort und im Sakrament der Eucharistie gegenwärtig auszuteilen, so muss er heute auf die Suche nach den Gläubigen gehen, und zwar dorthin, wo sich diese befinden: zu Hause, im Krankenhaus, am Arbeitsplatz, auf der Straße… – und sie in den Schoß der Kirche zurückzubringen. Jesus empfand Mitleid mit den Menschen: „Die große Menge jammerte ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben” (Markus 6, 34). Und Jesus sendet Seine Jünger aus, um die verlorenen Schafe zu suchen. Unsere Mission gilt in erster Linie den verlorenen Schafen, denen jede spirituelle Orientierung fehlt. Unser pastorales Wirken richtet sich nicht mehr in erster Linie an Massen von Gläubigen, die fromm dem Wort des Priesters lauschen, denn diese Massen existieren gar nicht mehr, sondern es ist heute eine sehr persönliche Pastoral und Seelsorge, die sich an den Gläubigen als Einzelnen richtet. Uns Orthodoxen steht in dieser Hinsicht das Sakrament der Beichte zur Verfügung. Die Beichte ist ein besonders wichtiges Mittel der persönlichen Seelsorge, das zwischen dem Priester und dem Gläubigen eine seelische Verbindung von Vater und Sohn herstellt.   

Doch nicht nur der Priester ist ein Missionar, sondern die ganze Pfarrgemeinde, freilich nur dann, wenn sie einladend und einig ist und wenn sie Herzenswärme ausstrahlt. Eine solche Pfarrgemeinde hilft den Gläubigen, persönlich die Erfahrung der Vereinigung mit Christus zu machen, sowohl im Gebet der Kirche, als auch in den sozialen Aktivitäten der Pfarrei. Die Gläubigen werden angezogen von Gemeinden, in denen der Priester sich als wahrer Hirte erweist, der mit Herz und Seele für seine Gläubigen da ist, weil er ein mitfühlendes Herz hat, für sie betet und sie auf den Weg zum Seelenheil anleitet.  

Ein letztes Wort sei mir gestattet. Ich glaube, dass wir Christen – und  in erster Linie wir Diener der Kirche – durch unseren schwachen Glauben und durch eine falsche Anpassung an diese Welt am meisten Verantwortung tragen für die große Krise des Christentums heute. Wenn das Salz seine Würze verliert und nicht mehr salzt, dann ist es zu nichts mehr wert und kann nur noch weggeworfen werden (vgl. Matthäus 5, 13)! Genauso für die Krise verantwortlich sind unsere scholastischen Theologien, die losgelöst sind von der lebendigen Quelle der Liturgie, des mystischen Gebets und der Askese. Diese Theologien haben uns daran gewöhnt, den Glauben als rein intellektuelle Übung zu praktizieren. Sie arbeiten mit Denksystemen, die das Leben konzeptionalisieren und auf Rationalismus reduzieren. Der heutige Mensch hat aber abstrakte Informationen und wissenschaftliche Erkenntnisse satt, er braucht ein lebendiges und liebevolles Wort, das sein Herz anrührt. Er braucht Menschen als Beispiele vor Augen, die auf authentische Weise die Liebe Gottes verkörpern, und er braucht offene Gemeinden, die ihn bei seiner spirituellen Suche unterstützen, Gemeinden, die auch fähig sind, jede Spaltung zu überwinden und die dadurch zugleich zum Nährboden für die Einheit der Welt werden.   

 Metropolit Serafim  

 

[Übersetzung aus dem Rumänischen: Pfarrer Prof. h. c. Dr. Jürgen Henkel, Selb]