Maria, Kirche, Schöpfung (Kattowitz, 15.11.2017)

 Vortrag gehalten am 36. Internationalen Treffen der Bischöfe, Freunde der Fokolarbewegung “Gemeinsam bekennen wir – gemeinsam gehen wir voran”, Kattowitz (Polen), 14.–18. Nov. 2017

Als ich 1994 als Metropolit der orthodoxen Rumänen in Zentral- und Nordeuropa nach Deutschland kam, bemerkte ich, dass die Gottesmutter Maria oft in den katholischen Kirchen nicht nur in Form von Statuen und Reliefs dargestellt ist. Oftmals wird die selige Jungfrau Maria auch auf Ikonen (Bildern) in der Form dargestellt, dass sie als liebende Mutter ihren schützenden Mantel ausbreitet über alles Volk: über Kleriker, gekrönte und adlige  Häupter genauso wie über die einfachen Gläubigen, sowie über die ganze Schöpfung. Diese Darstellung, im Deutschen als „Schutzmantel Mariä“ oder „Schutzmantelmadonna“ bekannt, ist auch in der orthodoxen Kirche vorhanden.

 Die Geschichte des Festes Schutzmantel Mariä

 Die orthodoxen Gläubigen feiern am 1. Oktober den Feiertag „Schutzmantel Mariä“ (slawisch „Pokrov“, griechisch „Maphorion / Omophorion“, rumänisch „Acoperământul Maicii Domnului”). Das Fest bezieht sich auf ein Ereignis aus dem 10. Jahrhundert in Konstantinopel, als die Stadt von slawischen Stämmen belagert wurde. Während eines Gottesdienstes in der Kirche des Stadtviertels Blachernae hatte ein Bürger der Stadt, nämlich der heilige Andreas, bekannt als „Narr für Christus“ († 946), eine Vision. Er sah die Mutter Gottes voller Tränen aus dem Altar hervorkommen, um mit ihrem Mantel die Gläubigen, die zum Gebet in der Kirche versammelt waren zu bedecken. Es gibt viele Kirchenlieder, die dieses Ereignis preisen, und viele orthodoxe Kirchen heutzutage tragen das Patrozinium „Schutzmantelmadonna“. Die Franzosen nennen die Ikone dieses Festes „La Vierge de la Miséricorde“. Dieses Attribut der Gottesmutter zeigt ihre unendliche Barmherzigkheit gegenüber der leidenden Menschheit. In seiner Qual am Kreuz vertraut unser Heiland Seine Mutter seinem Lieblingsjünger an: „Frau, siehe, dein Sohn“; und zu Johannes sagt er: „Siehe, deine Mutter“ (Joh 19, 26-27). So wird die Mutter Gottes zur Mutter aller, die an ihren Sohn glauben, den sie mit ihrem Gewand beschützt.

 Die Gottesmutter und die Kirche

 In der orthodoxen Tradition gilt die Heilige Jungfrau und Gottesmutter „geehrter als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim“, laut dem Axion, dem bekanntesten an sie gerichtete Hymnus. Die „Hochverehrung der Gottesmutter“ – das heißt ihre Verehrung über das Maß der Verehrung der übrigen Heiligen und auch der himmlischen Kräfte hinaus – gründet sich auf die Tatsache, dass sie es annahm, als Werkzeug Gottes für das Heil der Welt durch die in ihr erfolgte Menschwerdung Seines Sohnes.

 Die Orthodoxe Kirche nennt die Mutter Gottes jedoch nicht Miterlöserin (Corredemptrix) neben ihrem Sohn. Bei der Verkündigung spricht Maria im Namen der ganzen Menschheit das „Fiat“, welches die Menschwerdung des Sohnes Gottes erlaubt. Wie Erzengel Gabriel ihr sagt, wird Maria „den Sohn des Höchsten“ gebären (Lukas 1,32). Sie ist sich ihrer Wahl als Werkzeug in der Hand Gottes bewusst und widersetzt sich nicht Seinem Plan. Als Maria ihre Verwandte Elisabeth besucht, begrüßt diese heilige Frau sie mit den Worten: „Wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ Maria ihrerseits spricht die Prophezeiung aus: „Von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder (Lk 1, 43. 48). Auf der Basis dieses biblischen Textes nennt das Dritte Ökumenische Konzil von 431 die Jungfrau Maria „Gottesmutter“ (Theotokos). Die Kirche lobt sie als Gottesmutter und anerkennt, dass Der von ihr Geborene nicht ein einfacher Mensch war, sondern Gott selbst, welcher Mensch zu werden akzeptierte. Das Subjekt des von Maria Geborenen ist nicht ein menschliches, sondern ein göttliches Subjekt: der Sohn Gottes oder die zweite Person der Dreifaltigkeit. Das Vierte Ökumenische Konzil (451) erklärt den Heiland Jesus Christus als eine Person in zwei Naturen. Die Person ist diejenige des Wortes oder des ewigen Logos, und die zwei Naturen sind die menschliche beziehungsweise die göttliche Natur. Der Glaube, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, ist die Grundlage des christlichen Glaubens.

 Weil sie Jesus in ihrem Leib trug und dem Erlöser der Welt, dem Gründer und Haupt der Kirche, das irdische Leben schenkte, ist die Gottesgebärerin auch als Symbol der Kirche zu sehen, und die Kirche rekapituliert die gesamte Schöpfung. Deshalb wird die Jungfrau Maria „umfassender als den Himmel“ genannt, genau weil sie in ihrem Schoß den Schöpfer des Himmels und der Erde trug.

 Die Gottesmutter im Gebet der Kirche

 Die Orthodoxe Kirche unterscheidet klar zwischen Anbetung und Verehrung. Nur  Gott allein kommt die Anbetung zu. Die Heiligen werden zusammen mit der Gottesmutter nur verehrt oder gelobt. Die Verehrung oder das Lob der Heiligen richtet sich zugleich auch an den Gott, der diese heiligte. „Wunderbar ist Gott in Seinen Heiligen!“(Psalm 150,1)

 Die Gottesmutter und die Heiligen sind nicht Mittler in ihren Gebeten zu Gott wie Jesus Christus es ist, „der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen“ (1. Timotheos 2,5). Die Heiligen helfen uns durch ihr Gebet, unser Leben auf dem Weg des Heils zu führen, indem wir ihrem Beispiel der Liebe und des Dienstes am Nächsten folgen.

 Im Kultus der orthodoxen Kirche gibt es viele Gebete und Lieder, die der Gottesmutter gewidmet sind. Es gibt keinen Kanon des Gebets oder der Ektenie (Litanei), bei dem eine Anrufung der Gottesmutter fehlte. Dem Rosenkranz der Katholischen Kirche entsprechen in der Frömmigkeit der orthodoxen Gläubigen die „Akathystos-Hymne zur Verkündigung“  und der „Trostkanon der Gottesgebärerin“.

 Alle der Gottesmutter gewidmeten Gebete und Hymnen an die Jungfrau loben sowohl den einzigartigen Platz, den sie in der Heilsgeschichte einnimmt, als auch die Tugenden der „höchst Begnadeten“ (Lk. 1, 28): Jungfräulichkeit und Mutterschaft, Gehorsam und Demut, Liebe gegenüber denen in Schwierigkeiten und Ärger. Gläubige bitten sie, bei ihrem Sohn für die Erfüllung ihren Forderungen vermittelnd einzugreifen, als an die Hochzeit zu Kana geschah.

 
Die Mönche und Nonnen verehrten besonders die Gottesmutter als Urmodell des Mönchtums.  In der Ikonographie erscheint die Gottesmutter fast ausschließlich in Verbindung mit dem Erlöser Christus (sei es, dass sie ihn in ihren Armen trägt, sei es neben ihm in dem Triptychon der „Deisis“-Ikone).  Viele Kirchen stehen unter dem Schutz der Gottesmutter. Die meisten Pilgerreisen zu Klöstern finden zu einem Fest der Gottesmutter statt, vor allem Mitte August, zum Fest des Entschlafens Mariä.

 In der russischen Tradition kennt man zahlreiche kleine Feiertage im Zusammenhang mit verschiedenen ikonographischen Darstellungen der Gottesmutter: die Gottesmutter von Wladimir, die Gottesmutter von Kasan, usw.  Es ist schwer zu glauben, dass es ein christlich-orthodoxes Haus gibt, in dem keine Ikone der Jungfrau Maria sei.

 Die Gottesmutter und die Welt bzw. die Schöpfung

 Der Erlöser Jesus Christus fasst in seiner menschlichen Natur die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung zusammen. Er ist der „universelle Mensch“ oder der „vollkommene Adam“, wie ihn die Kirchenväter nennen. Er hat alles in Sich wiederhergestellt. Alles lebt in Ihm und durch Ihn. Er ist von niemandem und nichts getrennt. Diejenigen, die mit Christus durch den Glauben und das Gebet sich vereinen, und vor allem in der Hl. Kommunion mit Seinem Leib und Blut, werden so wie Er ist: Personen, die den Egoismus überwinden und so wie Christus die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung in sich rekapitulieren. Es gibt einen radikalen Unterschied zwischen dem Individuum und der Person. Das Individuum ist in sich selbst verschlossen, selbstsüchtig, getrennt von den anderen. Im Gegensatz zum Individuum ist die Person offen und schließt alle was existiert, in sich ein. Die Person ist von niemandem und nichts getrennt. Alles lebt in sich. Die orthodoxe Theologie spricht hier von „Vergöttlichung“ (Theosis). Der Mensch als Person wird wie Gott, aber nicht der Natur und seinem Wesen nach, sondern der Gnade nach.

 Durch das Geheimnis am Tag der Verkündigung, als der Sohn Gottes im   Schoß der Jungfrau Wohnung nahm, wurde Maria als erster Mensch vergöttlicht. Sie rekapituliert in sich selbst, wie Christus, die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung.

 Wir sind alle zur Vergöttlichung durch die Überwindung des Standes eines egoistischen Individuums berufen, und zwar mithilfe der Gnade, aber auch durch unser eigenes persönliches Bestreben. So legen wir das egoistische Interesse ab, das nur das Eigene sucht und die Mitmenschen vergisst, um zu einer immer vollkommeneren Gemeinschaft mit Gott und den nächsten zu kommen.

 Schluss

 Abschließend möchte ich eines der schönsten an die Gottesmutter gerichteten Gebete der Orthodoxen Kirche wiedergeben:  „Würdig ist in Wahrheit, dich selig zu preisen, die Gottesgebärerin, die immer Seliggepriesene und Allmakellose und Mutter unseres Gottes. Die du geehrter bist als die Cherubim und unvergleichlich  herrlicher als die Seraphim, die du unversehrt Gott, das Wort geboren hast, dich, die wahrhafte Gottesgebärerin, hochpreisen wir.“

+ Metropolit Serafim