„Betet ohne Unterlass !“ – 1. Thess. 5, 17 (Nürnberg; 1.01.2004)

Es ist mir eine Freude, hier, vor Ihnen, als Christen von Nürnberg, das Wort zu ergreifen – in diesem feierlichen Moment des Gebets am ersten Tag des Jahres 2004.

Sicher werden Sie die Stimme der Orthodoxie hören, jener Orthodoxie, welche die Lebensweise und die Kultur der Völker geprägt hat, die im Osten Europas leben. Diese Stimme der Orthodoxie mag in den Ohren vieler im Westen fremdartig klingen, darum bitte ich Sie schon vorab um Pardon.

Mit Ihrer freundlichen Erlaubnis möchte ich Ihnen zu Anfang mit einigen Worten die Weise vorstellen, in der die orthodoxen Christen ihren Glauben verstehen und zu leben suchen, um sodann auf die gestellte Frage zu antworten: Bis wohin können wir Christen verschiedener Konfessionen gemeinsam beten, angesichts unserer theologischen Unterschiede?

1. Die Orthodoxie ist nicht – wie man häufig meint – mit Rigidität oder Fundamentalismus gleichzusetzen. In der Tat kann das Wort „Orthodoxie“ zu diesem Missverständnis beitragen, denn es bedeutet die genaue, rechte Übereinstimmung mit einer Lehre oder mit einem Dogma. Schon das Wort „Dogma“ macht uns ja Angst. Die orthodoxen Christen verstehen unter „Orthodoxie“ den rechten Glauben und den richtigen Lobpreis, der Gott gebührt.

Wir wissen, wie sehr die Christen in den ersten Jahrhunderten um die Richtigkeit und Genauigkeit, das heißt: die „Orthodoxie“ des christlichen Glaubens besorgt waren, angesichts der Häresien, die ihn vereinfachten und sein Geheimnis tilgten, um ihn dem Verstand zugänglicher zu machen. Wir wissen jedoch, dass der Glaube eben die Kreuzigung des Verstandes bedeutet. Wir müssen in uns die Versuchung geradezu kreuzigen, den Glauben völlig mit dem Verstand zu erfassen, um so dem Geheimnis, dem Mysterium Raum zu lassen. Denn Gott und Seine erlösenden Handlungen sind jenseits allen Verstandes. Gott ist das Geheimnis der Mysterien; der Mensch ist ein Mysterium; die Schöpfung ist ein Mysterium; das All ist ein Mysterium. Das was wir mit unserem Verstand erkennen, wenn er durch den Glauben erleuchtet wird, ist unendlich wenig, selbst wenn der wissenschaftliche Fortschritt alle Geheimnisse zu enthüllen scheint. Das Mysterium ist Gegenstand des Glaubens und der Anbetung und nicht der theologischen Spekulation. Die Orthodoxen sind also diesem Glauben der ersten Jahrhunderte der Kirche Jesu Christi treu geblieben, in der sie einig war.

Die Orthodoxie ist auch eine betende Kirche: die langen liturgischen Gottesdienste, die allgemein stehend gefeiert werden, in Kirchen, deren Größe sich nach dem Mass des Menschen richtet, die intim wirken, die gefüllt sind mit Ikonen und Weihrauch, die so die Seele und den Leib beten lassen und uns in das Geheimnis der göttlichen Gegenwart führen. Der Schwerpunkt liegt auf der Einheit des Verstandes mit dem Herzen, denn das Herz ist der Mittelpunkt der menschlichen Person, der Ort, an dem der Mensch sich seiner inne wird, und an dem sich die Freuden und Trauerspiele unseres Lebens ereignen. Ich glaube, dass die Orthodoxie am besten dem grundlegenden Bedürfnis des Menschen nach dem Geheimnisvollen entspricht, das heißt, der Mystik oder der Spiritualität.

Der Verstand des Menschen, seine Ratio, auf die der moderne Mensch so ausschließlich stolz ist, ist nicht als eine „Energie des Herzens“, „Denn“, wie unser Herr sagt, „aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen.“ (Matthäus 15, 19). Wir brauchen daher eine „Kultur des Herzens“ oder ein „verständiges Herz“, wie die alten Väter sagten. Das Herz zu kultivieren heißt, viel zu beten und vor allem, gut zu beten, das heißt, „mit dem Verstand im Herzen zu beten“, wo der „Verstand sich mit dem Herzen verbindet“, damit das Gebet unser Sein wahrhaftig in seiner Tiefe berührt. Während wir nämlich beten, indem alle Aufmerksamkeit im Herzen konzentriert ist, werden wir nämlich bemerken, wie unser Herz sich allmählich anfüllt mit Wärme, die ein Zeichen dafür ist, dass wir wirklich von der Gnade berührt sind. So werden unser Geist und unser Herz sich neu zusammensetzen und sich vereinigen, während sie zuvor in Aufruhr waren, ohne Einheit und verstört. So wie es im Markusevangelium, in der Geschichte vom Besessenen von Gerasa heißt (Mk. 5,9): „Wie heißt du ? Er antwortete: Mein Name ist Legion, denn wir sind viele.“

Und gerade aufgrund der Vereinigung des inneren Menschen, die durch das Gebet bewirkt wird, weitet sich das Herz, um die ganze Menschheit in sich zu schlissen. Der Mensch lebt infolgedessen in einer ontologischen Einheit des ganzen Menschengeschlechtes. Er ist nicht mehr von irgend jemandem oder irgend etwas getrennt, denn alles lebt in ihm: die Menschen, die Pflanzen, die Mineralien. Er ist wie Adam vor dem Fall, und wie Christus selbst: der „vollkommene Adam“, der „universale Mensch“, das Zentrum des Universums und selbst ein Mikrokosmos. Das ist das Wunder der Liebe: Gottesliebe, Menschenliebe. Alles ist Liebe !

Auf dieser geistlichen Grundlage, das heißt, dieser Einheit des inneren Menschen, die man durch Gebet und Askese erreicht, müssen wir unsere Probleme der Gesellschaft und der Umwelt lösen; und besonders unsere theologischen Auseinandersetzungen. Denn offenkundig kann man nicht Einheit von Außen aufzwingen, selbst nicht durch theologische Vereinbarungen. Alle Einheit ist zuerst eine Einheit der Herzen. Zuerst muss ich mein Herz für die anderen öffnen, um mich mit ihnen zu verstehen.

2. Wenn die Christen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bequem mit ihren Trennungen gelebt haben, so stellt sich die Frage nach der Einheit der Kirche Jesu Christi seit der Gründung des Weltrats der Kirche 1948, dem die orthodoxen und reformatorischen Kirchen angehören, und seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) , mit aller Schärfe. Diese Einheit erlegt uns das Gebot Christi auf, das er vor Seiner Passion gab, indem er betete, dass alle, die an Ihn glauben, ein seien. (Vergleiche Johannes 17, 23).

Trotz aller Fortschritte, die in der Annäherung der Christen während mehr als 50 Jahren erkennbar wurden, sind wir noch weit davon entfernt, eins im Glauben zu sein. In unserem Unbewussten leben vielfach die Mentalitäten, die in den Zeiten der konfessionellen Polemik oder der Religionskriege geprägt worden sind, fort. Es ist vielleicht die Suche nach klarer Identität oder, was für uns Orthodoxe gegenwärtig ein Problem ist: die Proselytenmacherei der Sekten, die solche Mentalitäten hervorrufen. Dementsprechend glauben viele, dass es kein Heil außerhalb ihrer eigenen Kirche gibt. Sie begrenzen somit das Handeln des Heiligen Geistes, der „weht wo er will“. Man vergisst eine grundlegende Sache, nämlich, zu wissen, dass Gott selbst der einzige ist, der das Heil zuteilt, und nicht der Mensch. Zu fragen, wer erlöst wird, und wer verdammt wird, heißt, sich an die Stelle Gottes zu setzen. Es ist schrecklich ! Wenn ich manchmal gefragt werde: trifft es zu, dass Katholiken oder Protestanten gerettet werden? So antworte ich mit den Worten eines der Alten: „Ich weiß, dass alle gerettet sind, außer mir“ ( aus dem Paterikon).

Seien wir uns dessen bewusst, dass unsere Trennungen nicht nur ein Skandal für die Welt sind, sondern, dass sie auch das Zeugnis einer jeden Konfession schwächen. Alle unsere Kirchen sind heute in der Krise. Alle sind mehr und mehr von ihren eigenen Gläubigen verlassen: hier, im Westen, weil die Gläubigen vielleicht in ihren Kirchen nicht mehr das Mysterium und die Wärme finden, die sie brauchen, und im Osten, weil die Kirchen, die übermäßig dem Ritual verhaftet sind, es nicht verstehen, sich dem modernen Menschen zu öffnen ohne zugleich das Wesentliche der Tradition zu verlieren.

Eine kürzlich in Amerika erschienene Studie sagt voraus, dass in fünfzig Jahren, aufgrund der schwachen demografischen Entwicklung in Europa und Nordamerika, und aufgrund der Entwicklung der charismatischen Bewegungen in Afrika und Lateinamerika, die Zusammensetzung (Konfiguration) des Christentums wesentlich verändert sein wird. Die traditionellen Kirchen werden bis zum Verschwinden abnehmen. Und wir verbarrikadieren uns in unseren theologischen Systemen, anstatt uns einer für den anderen zu öffnen, um uns gegenseitig durch die Gaben eines jeden zu bereichern. Denn in jedem Fall bleiben unsere konfessionellen Doktrinen unverrückbar, solange wir nicht unsere Herzen öffnen, um das Leben der anderen mit zu leben und uns mit ihnen zu identifizieren. Gewiss, das ist eine schwierige Sache, denn es verlangt Selbstverleugnung, Aufgabe des eigenen Stolzes und Egoismus.

Deshalb brauchen wir heute, mehr denn je, eine Ökumene des Lebens und des Gebetes. Das bedeutet, dass wir Anstrengungen unternehmen müssen, um uns besser kennen zu lernen, sowohl als Personen, als Schwestern und Brüder in Christus, wie als Konfessionen. Dazu müssen die Begegnungen nicht nur auf offizieller Ebene, sondern auf derjenigen der Gläubigen alle Altersstufen vervielfältigt werden. Sich für das Leben des anderen zu interessieren, für die Weise, in der er seinen Glauben lebt, mit ihm zu beten, heißt seine Selbstgenügsamkeit zu überwinden und seinen Egoismus, um sich eben durch das Leben des anderen bereichern zu lassen. Und wenn wir einander besser kennen, werden wir erstaunen über die besonderen Gaben, die ein jeder hat und über die Reichtümer einer jeden Konfession. So entsteht in uns Achtung vor dem anderen, vor seinem Glauben, seiner Tradition und auch die Liebe.

Und das Gebet ? Welchen Platz hat es in unserem Leben und in unseren Kirchen, in der ökumenischen Bewegung ? Ich habe bereits die hohe Bedeutung unterstrichen, welche die orthodoxe Kirche dem persönlichen ebenso wie dem liturgischen und dem gemeinschaftlichen Gebet zumisst. Ich bin davon überzeugt, dass wir es ebenso nötig haben, zu beten wie zu atmen, zu essen und zu trinken. Deshalb ermahnt uns der Apostel Paulus: „betet ohne Unterlass !“ (1. Thessalonicher 5, 17). Das Gebet ist das Leben der Seele. Unsere Seele kann nicht ohne das Gebet leben. Andernfalls verhärtet sie sich, wird unsensibel und verzehrt sich im Fleischlichen (vgl. Genesis 6,3). Unsere Pfarreien müssten vor allem Orte des Gebetes sein, der Gemeinschaft mit Gott und mit Unseresgleichen. Denn das menschliche Wesen ist ein Gemeinschaftswesen und kann sich nicht verwirklichen außer in Gemeinschaft mit Gott und mit den anderen. Ist es doch die Gemeinschaft mit Gott, welche die Gemeinschaft mit den anderen begründet. Wir können die anderen nicht wirklich lieben, wenn wir nicht zuerst Gott lieben. Nun verwirklicht sich unsere Liebe vor allem und besonders durch das Gebet. Ein Gebet, das einfach ist, schlicht, vertrauensvoll, welches uns erfüllt mit göttlicher Kraft und seelischem Gleichgewicht.

Und ebenso das liturgische Gebet, das gemeinschaftliche, das uns alle um den Tisch des Herrn versammelt, um Anteil an Seinem lebensspendenden Leib und Blut zu haben. Es ist wahr, dass unsere Theologien der Eucharistie oder des Herrenmahls verschieden sind. Die Orthodoxen und die Katholiken glauben, dass die Eucharistie als Mysterium des Leibes und Blutes Christi die Kirche begründen. Für diese Christen ist die Eucharistie die Kirche und die Kirche die Eucharistie. Deshalb bedeutet in der Orthodoxen und in der Katholischen Kirche zu kommunizieren zugleich, den Glauben, der von der Kirche gelehrt wird anzunehmen oder zu bekennen. Im Unterschied dazu begründen die Protestanten – als Kirche des Wortes – die Kirche auf das Wort Gottes, während das Abendmahl in gewisser Weise sekundär geworden ist. Angesichts dieser Unterschiede scheint eine Interkommunion unmöglich zu sein.

Und das muss von allen als ein großes Leid getragen werden. Dennoch können wir gemeinsam beten, in einer katholischen Messe, einer orthodoxen Göttlichen Liturgie oder in einem evangelischen Abendmahl, selbst wenn wir nicht kommunizieren, denn es gibt verschiedene Formen der Kommunion mit Christus: durch das Hören des Wortes, durch das Gebet, durch den Gesang, sogar durch die Atmosphäre der Kirche. Und selbstverständlich können wir gemeinsam auch in den anderen liturgischen Formen unserer Kirchen beten. So werden wir den Reichtum einer jeden Tradition kennen lernen. Das was wichtig ist, ist die Authentizität, die Aufrichtigkeit und Echtheit des Gebetes, die von einem jedem einzelnen abhängt. Ich wiederhole: Während wir beten, im Privaten oder in der Kirche, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf unser Herz richten, um nicht nur mit dem Kopf zu beten, auf eine kalte Weise, sondern auch mit dem Herzen, das dem Gebet seine Qualität gibt. Das Gebet muss unser ganzes Sein und Wesen einbeziehen. Nur so verwandelt es uns, und macht uns demütig und schenkt uns Frieden und erfüllt uns mit der Liebe zu Gott und zu den Menschen. Ein solches Gebet verändert nicht nur unsere Herzen, sondern auch das Gesicht der Welt, denn das Gebet ist allmächtig.

Ich möchte diese Meditation beschliessen, indem ich dem Wunsch Ausdruck gebe, dass wir alle mehr und mehr das Glück des Gebets und die Frucht des Gebets entdecken, die der Frieden ist, der alle Vernunft übersteigt. (Philipper 4,7).

Metropolit Serafim

Nürnberg, den 1. Januar, 2004