Die Orthodoxie (Nürnberg, 04.03.2004)

Gestatten Sie mir, diese knappe Einführung in die Orthodoxie mit einer kurzen Beschreibung der liturgischen Zeit zu beginnen, in der wir uns gerade befinden.

In diesem Jahr feiern alle Christen das große Fest der Auferstehung Jesu Christi am selben Datum am 11. April.

Wir sind in der zweiten Woche der Passionszeit, einer Zeit, die der Vorbereitung auf das christliche Passah gewidmet ist. Für die Orthodoxen bedeutet die Passionszeit: Fasten : während dieser Zeit isst man nur vegetarische Speisen – und auch Enthaltsamkeit der Sinne, einschließlich ehelicher Enthaltsamkeit, Nüchternheit in Worten, all das, um sich ganz besonders dem Gebet zu widmen, das den Gläubigen mit Gott verbindet.
Die Passionszeit ist auch mit tätiger Nächstenliebe verbunden, denn besonders durch die Nächstenliebe ahmen wir das Beispiel Jesu nach.
Die Passionszeit hat zutiefst eine Dimension der Busse. Es ist die Zeit der Introspektion, der Innenschau, einer Prüfung des Gewissens mit Hilfe eines geistlichen Vaters. Eine solche Prüfung macht uns den Zustand des Gefallen-Seins unserer menschlichen Natur deutlich, indem sie sich von Gott entfernt, der Leben, Liebe, Licht, Wahrheit und Quelle alles Guten ist.
Die Sünde ist gerade der Bruch oder die Schwächung der Verbundenheit mit Gott und mit unseren Geschwistern in der Menschheit.
Hingegen stellt der Mensch durch das Sakrament der Busse, durch Fasten, Meditation und das Gebet seine Verbundenheit mit Gott und mit seinesgleichen wieder her und befestigt sie. Und er bemüht sich mehr um einen Geist der Liebe und der Demut im Dienst an der Menschheit.

Ein Gebet des heiligen Ephraims des Syrers (4. Jh.), das in den gottesdienstlichen Ordnungen dieser Zeit besonders häufig wiederkehrt, vermittelt genau diesen Geist der Passionszeit: „Herr und Gebieter meines Lebens, den Geist der Trägheit, des Kleinmuts, der Herrschsucht und unnützer Worte nimm von mir.
Gib mir hingegen, Deinem Knecht (Deiner Magd) den Geist der Weisheit, der Demut, der Geduld und der Liebe.
Ja mein Herr und König, lass mich sehen meine Fehler und nicht richten meine Brüder und Schwestern, denn Du bist gesegnet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

MERKMALE DER ORTHODOXIE
 
1. DER ASKETISCHE GEIST DER ORTHODOXIE
In einem westlichen Milieu wie dem unsrigen hier möchte ich besonders darauf hinweisen, dass der wesentlichste Zug der Orthodoxie ihr asketischer Charakter ist. Dieser Geist ist in einem Sprichwort aus der Zeit der Kirchenväter enthalten, das besagt: „Gib Dein Blut und Du empfängst den Geist!“ Die dem Evangelium gemäße Liebe, die Jesus selbst uns gezeigt hat, kann keiner anders leben, als durch einen radikalen Bruch mit dem, was wir „die Welt“ nennen. Es handelt sich um die gefallene Welt, die von Sünde geprägt ist und nicht um eine Welt, wie sie Gott geschaffen hat. Es besteht ein unaufhebbarer Antagonismus zwischen der gefallenen Welt und der Welt, die in Christus wiederhergestellt ist. Und als Christen leben wir in der Welt ohne zugleich von der Welt zu sein (Johannes 17,14). „Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.“ (Jakobus 4,4). Die Welt wird hier mit der Sünde gleichgesetzt. In der Taufe stirbt der Christ mit Christus dieser Welt der Sünde ab, und ersteht mit Ihm auf zum ewigen Leben des Reiches Gottes, das in dieser Welt aufgebrochen ist mit der Ankunft des Christus.
Das christliche Leben besteht folglich genau in der Anstrengung, Tag für Tag seine eigene Taufe Wirklichkeit werden zu lassen, – sie zu „verwirklichen“, wenn man so will – d.h., ein Leben in der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes, in dem das Gesetz die Liebe ist. Der Mensch, der in Christus neu ist, wird, wie es eben in einer Geburt ist, unter Schmerzen neu geboren. Oder, um ein Bild der Architektur zu verwenden: Dieser neue Mensch, als „Tempel des Heiligen Geistes“ ersteht auf den Ruinen des alten Menschen. Den alten Menschen jeden Tag in uns sterben zu lassen, damit der neue Mensch geboren werden und an Stärke gewinnen kann, ist unmöglich ohne eine asketische Anstrengung, die durch die Gnade unterstützt wird.
Die Askese, d.h. das Fasten und eine rigorose Disziplin der Sinne, das persönliche und das gemeinschaftliche Gebet – denn das Gebet ist auf seinen ersten Stufen auch eine Sache der Askese – und die Sakramente der Kirche, deren Empfang auch eine Vorbereitung voraussetzt, all diese asketischen Anstrengungen setzen in uns die Energien der Taufe frei, damit der neue Mensch „in der Liebe eingewurzelt und gegründet“ werde (um es mit einem Bild aus dem Epheserbrief 3,17 zu beschreiben) um als solcher aufzutreten und sich in seinen Beziehungen mit den Mitmenschen zu manifestieren.
So reinigt die Askese unsere Sinne von aller Unreinheit und befreit unseren Verstand, damit er sich natürlicherweise auf Gott ausrichtet, um stets das Gute zu wählen. Ein solcher Mensch, der in sich die Sünde besiegt hat, ist von einer Ausstrahlung des Friedens umgeben, die von ihm ausgeht, von Liebe, Güte, Mut und allen Tugenden des Evangeliums. So verändert sich die Welt und erneuert sich!
Die Askese befreit uns also von den leidenschaftlichen Bindungen an diese Welt. Und ebenso macht die Askese uns wirklich zu Herren unserer selbst sowie zu Meistern über die Schöpfung in Einheit mit einer tiefen Achtung vor ihr.
Die Askese darf daher nicht allein in ihrem negativen Aspekt betrachtet werden, als Entbehrung, sondern auch in ihrem positiven Aspekt. Die Selbstbeherrschung, die Meisterschaft über das Selbst, und die Freude, die sie in uns hervorruft, sind viel wichtiger, als alle Entbehrungen.

2. DIE LITURGIE

Die Orthodoxie ist insbesondere eine betende Kirche. Die langen liturgischen Gottesdienste, an denen man gewöhnlich stehend teilnimmt, in Kirchen, deren Größenach dem Maß des Menschen genommen ist, die intim sind, bedeckt mit Ikonen und Fresken, – sie bringen die Seele und den Leib in uns zum Beten und führen uns in das Geheimnis der göttlichen Gegenwart ein.

Die eucharistische Liturgie (also die Abendmahlsfeier) wird aufgefasst als „Himmel auf Erden“. Schon die Umgebung der Kirche mit ihren heiligen Bildern, den Ikonen und Fresken, versetzt uns in die Stimmung, mit den Engeln und den Heiligen zu beten.

Im „Cherubinischen Hymnus“ – das ist ein Hymnus, der vor der Heiligung der eucharistischen Gaben die Gegenwart der himmlischen Mächte beschwört, ein getragener Hymnus von großer Schönheit – in diesem Hymnus singt der Chor: „Wir, die wir geheimnishaft die Cherubim vergegenwärtigen und den Hymnus der dreimal heiligen, lebensspendenden göttlichen Dreifaltigkeit singen: Alle Sorge, Sorge des Lebens, lasset uns ablegen, um zu empfangen den König über alles, ihn der unsichtbar begleitet wird von den Scharen der Engel.“ Also, die Kirche ist eins in ihren irdischen und himmlischen Aspekten.
Die eucharistische Gemeinschaft ermöglicht der Kirche sich zu verwirklichen: Wir sind wirklich Kirche Jesu Christi, indem wir teilhaben am Mysterium Seines Leibes und Blutes.
Bevor man den institutionellen Aspekt der Kirche in den Blick fasst, muss man ihren mystischen, sakramentalen Aspekt betrachten.
Die Kirche ist niemals auf die Hierarchie oder auf die Institution zu reduzieren; sie ist vor allem „der Leib Christi“, der uns vereint und uns zu Gliedern dieses Leibes macht und somit den einen zum Teil des anderen. In Christus sind wir alle wesensmäßig eins, ohne dass ein jeder seine persönliche Identität verliert. Hier berühren wir das Geheimnis der Trinität, eines Gottes in Dreien: Die Menschheit, die nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, ist auch eins in der Vielzahl der menschlichen Personen. Es ist ausschließlich Sünde, die diese Einheit zerstört und die Menschheit in sich verfeindet sein lässt. Folglich können wir, mit Christus verbunden im Geheimnis Seines Leibes und Seines Blutes, die Sünde besiegen und wirklich vereint mit allen in Ihm leben.
Ich muss hinzufügen, dass die Orthodoxen gehalten sind, sich auf die Kommunion, auf die Teilnahme am Abendmahl, durch Nüchternheit, Beichte und Gebet vorzubereiten.
Die Eucharistie steht somit im Zentrum des christlichen Lebens. Sie ist das Mysterium der Mysterien. Alle anderen Sakramente: Taufe, die Salbung der Firmung, Priestertum, Beichte, Heirat und Krankensalbung haben ihren Grund in der Eucharistie. Selbst die Verkündigung des Wortes Gottes findet gewöhnlich im liturgischen Rahmen statt, in Verbindung mit der Feier der Sakramente und der anderen liturgischen Riten.
In der Orthodoxen Kirche, ebenso wie in der Römisch-Katholischen Kirche werden die Sakramente durch den Bischof, oder in seiner Abwesenheit, durch den Pfarrer zelebriert. Der Bischof und der Pfarrer werden in ihrem Dienst vom Diakon unterstützt. Nach altem Brauch werden Bischöfe aus den Mönchen, Pfarrer und Diakone hingegen aus den verheirateten Laien ausgewählt.
Die Laien selbst sind Träger des universalen Priestertums durch die Tatsache ihrer Taufe. Innerhalb dieses universalen oder königlichen Priestertums gibt es somit das geweihte Priestertum mit seinen drei Stufen: Bischof, Priester und Diakon.

3. DAS MÖNCHSTUM UND DIE TRADITION DES HESYCHASMUS
Die Mönche sind Christen, die auf maximale Weise dem Evangelium gemäß leben wollen, die dem Christus völlig, kompromisslos und rückhaltlos nachfolgen wollen. Dennoch maßt sich ein Mönch niemals an, ein Held zu sein, denn aus eigener Erfahrung weiß er: „alles ist Gnade“, und dass er nichts anderes tut, als sich in seinem Leben dem Handeln Gottes zur Verfügung zu stellen. Der Mönch ist in besondere Weise ein Prophet des Reiches Gottes, wo man „nicht heiratet, noch geheiratet wird; sondern man wie die Engel im Himmel ist“ (Mt. 22,30). Sicher, es sind wenige, die dieses Mysterium des Zölibats um des Reiches Gottes willen begreifen. Jesus selbst hat gesagt: „etliche enthalten sich der Ehe um des Reiches Gottes willen. Verstehe es, wer es verstehen kann!“ (Matth. 19,12).
Es ist kein Zufall, dass das Mönchstum nach seinen vielfach zaghaften Anfängen, besonders im 4 Jahrhundert einen großen Aufschwung genommen hat, als ein Niedergang des allgemeinen Christentums mit der massenhaften Konversion von Heiden einsetzte. Durch ihr schlichtes Leben in Keuschheit, Askese und Gebet, haben sich die Mönche gewissermaßen als das Herz der Kirche erwiesen. Im Orient wie im Okzident verdanken wir den Mönchen eine ganze Kultur, welche die Kirche geprägt hat durch ihr Gebet und ihr soziales Handeln, denn orthodoxe Klöster stehen, mit wenigen Ausnahmen, den Laien stets offen. So besteht eine wahrhafte Osmose zwischen dem Leben der Pfarrgemeinden und dem Leben der Klöster.
Alle unsere liturgischen Gottesdienste sind monastischen Ursprungs. Und das gilt besonders für die Kunst des persönlichen Gebetes. Denn zu beten ist wirklich eine Kunst.
Sicher haben Sie schon vom Hesychasmus gehört. (Ich hoffe jedenfalls, dass er im Westen schon zum Allgemeingut gehört.)
Der Hesychasmus – abgeleitet vom Griechischen Wort „Hesychia“, die „Ruhe“ – ist diese besondere Strömung des orthodoxen Mönchstums, die den Frieden des Herzens durch die „Hesychia“, die Stille, und durch das ununterbrochene Gebet sucht. So gesehen sind eigentlich das ganze Mönchstum und die ganze Kirche in ihrem Wesen „Hesychasten“. Denn jedermann sucht, selbst unbewusst den Frieden seines Herzens.
Der Bibel zufolge und nach den Unterweisungen der Väter der hesychastischen Tradition, ist das Herz der Ort, an dem der Mensch sich sammelt und zur inneren Einheit findet. Es ist das Zentrum des biologischen Lebens und ebenso des spirituellen Lebens. Alle unsere Fähigkeiten versammeln sich im Herzen wie in einem Raum der Begegnung. Auch die Gnade der Taufe verbirgt sich in unserem Herzen und wartet auf unser Engagement für ein authentisches Leben im Glauben.
Im Zustand der Sünde, in dem wir gewöhnlich leben, ist unser Herz in sich gespalten, beunruhigt und ohne Frieden. Aus einem solcherart gebrochenen, zersplitterten Herzen entsteht ununterbrochen eine Vielzahl einander widersprechender Gedanken, die ebenso vielen bösen Geistern gleichen, die uns beunruhigen. „Wie heißt du“ fragte Christus den Besessenen von Gerasa und dieser antwortete – oder besser: es antworteten aus ihm seine Dämonen -: „Mein Name ist Legion, denn wir sind viele .“ (Mark. 5,9)
Um die Einheit des Herzens zu erlangen und damit den Frieden des inneren Menschen, der durch das Herz symbolisiert wird, muss man den Anweisungen der Hesychasten folgen. Sicher, alle Einheit und aller Friede sind Geschenke Gottes. Aber die Gabe Gottes muss durch das Gebet und die Askese aufgenommen, werden. Die hesychastischen Väter lehren uns, dass alles Gebet mit den Gedanken im Herzen vollzogen werden soll. Der menschliche Verstand ist nichts als eine „Energie des Herzens“. Seine Wurzel befindet sich im Herzen. Daher ist es normal, dass unser Gebet hinabsteigt aus dem Gehirn in das Herz, während wir beten. Wenn nicht, so bleibt es ein rein geistiges Beten, das kalt ist und nicht die Seele nährt. Wenn das Gebet „hinabsteigt“ ins Herz – bildlich gesprochen – beginnt sie unser ganzes inneres Wesen einzubeziehen. Ganz zu Anfang verschwinden die Gedanken, die dem Gebet fremd sind, und nur das Denken selbst bleibt an das Gebet gebunden. Das Herz selbst findet zunehmend seine innere Einheit und seinen Frieden. Der Mensch macht nun die Erfahrung seiner essentiellen Einheit mit der ganzen Menschheit und mit der ganzen Schöpfung. Denn die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung leben in uns. Der Mensch ist der Mittelpunkt der Schöpfung, die sich in ihm zusammenfasst und wiederholt. Aus diesem Grund sprechen die Väter vom Menschen als von einem „Mikrokosmos“. Und so findet der Mensch durch das Gebet seinen Platz in der Schöpfung.
Das erste Zeichen, an dem wir merken können, dass wir beten, ist eine Wärme, die wir ums Herz spüren. Die Gnade der Taufe ist dann befreit und wirkt in uns. Sie umgibt das Herz mit Liebe zu unsren Brüdern und Schwestern in der Menschheit und zur ganzen Schöpfung.
Ein Mensch, der solchermaßen von Liebe zur ganzen Schöpfung erfasst ist, betet für alle Menschen, für die Tiere… und sogar für die Dämonen, sagt der heilige Isaak, der Syrer (7. Jh.). Er ist bereit, nicht nur unbedingt seinen Brüdern zu helfen, sondern sogar sein Leben für sie zu geben; denn er hat zur Ähnlichkeit mit Gott gefunden. Er ist in allem wie Gott geworden. (Wenn Ihnen dieser Gedanke ungewöhnlich, ja womöglich blasphemisch vorkommen mag, so erinnern Sie sich nur daran, dass nach biblischem Zeugnis der Mensch nach den „Gleichnis und Ebenbild Gottes“ erschaffen ist.) Aus diesem Grund spricht man in der orthodoxen Theologie von der „Vergöttlichung“ des Menschen als dem Ziel der menschlichen Existenz. Der Mensch ist berufen, zu werden wie Gott und ihm in allem zu gleichen. Aber es handelt sich um eine Vergöttlichung durch Gnade, nicht von Natur aus. Der Mensch bleibt ein beschränktes Wesen, selbst in vollkommener Einheit mit Gott. Der heilige Maximos der Bekenner vergleicht den vergöttlichten Menschen mit Eisen, das ins Feuer gelegt wird. Das Eisen nimmt Qualität des Feuers an, ohne selbst Feuer zu werden. Im gleichen Sinne sagt einer der grössten zeitgenössischen orthodoxen Theologen, Vater Dumitru Stăniloae (+1993), dass die Vergöttlichung des Menschen die höchste Vermenschlichung des Menschen ist.

4. ORGANISATION:
In ihrer Organisationsform regiert sich die Orthodoxe Kirche im synodalen oder konziliaren Geiste. Die Diözese ist die Gemeinschaft aller eucharistischen Gemeinschaften auf einem bestimmten Gebiet. Jede Diözese mit ihrem nach den Regeln des Kanons kirchlichen Rechtes gewählten Bischof, der sie führt, ist Kirche Jesu Christi oder universale Kirche , unter der Voraussetzung, dass der Bischof in Gemeinschaft des Glaubens mit all den anderen Bischöfen steht.
Die Diözesen einer Region sammeln sich in einer Metropolie und ihre Bischöfe bilden gemeinsam die Metropolitansynode, deren Metropolit der „primus inter pares“ ist, der Erste unter Gleichen. Auf der nächst höheren Ebene bilden die Metropolien zusammen ein Patriarchat. Die Patriarchatssynode besteht aus den Metropoliten und den Diözesanbischöfen. Der Patriarch ist der Präsident der Patriarchatssynode, aber auch er wiederum nur als „primus inter pares“, Erster unter Gleichen. So besteht zum einen das Territorial-Prinzip, zum anderen das Synodal-Prinzip.
Die eine ungeteilte Kirche des ersten Jahrtausends war in fünf Patriarchate gegliedert: Rom, Konstantinopel (das heutige Istanbul), Alexandrien (in Ägypten), Antiochien (heute ist der Sitz in Damaskus in Syrien) und Jerusalem.
Nach dem Schisma (der Spaltung) zwischen Ost und West im Jahre 1054, das nach dem Jahre 1204, mit dem 4. Kreuzzug wirksam wurde, hat das Patriarchat von Rom eine Entwicklung zu einer immer stärkeren Zentralisierung durchgemacht, und hat durch Mission weite Gebiete außerhalb Europas gewonnen. Dagegen blieben die vier Patriarchate des Ostens zwar vereint, doch wurden sie durch die islamische Eroberung mehr und mehr geschwächt.
Im Osten hat der konziliare Geist, der die Betonung auf die örtliche Kirche legt, die Entstehung weiterer Patriarchate , oder autokephaler, d.h. sich selbst regierender Kirchen gefördert, besonders in der Zeit der Entstehung von Nationen, im 19. Jahrhundert, als das Prinzip der Territorialität fast gleichgesetzt wurde mit dem der Nation. So sind das Patriarchat von Moskau und ganz Russland, das Patriarchat Serbien, das Patriarchat von Rumänien, das Patriarchat von Bulgarien, das Patriarchat von Georgien und die autonomen Kirchen von Griechenland, Polen. Albanien, Tschechiens und der Slowakei entstanden. Die Kirche von Zypern erhielt ihre Autonomie bereits im 4. Jahrhundert. Eine autokephale Kirche regiert sich selbst ohne Einmischung von außen. Dennoch bedeutet Autokephalie nicht Autarkie, denn keine Kirche genügt sich selbst. Alle Kirchen müssen die Einheit miteinander bewahren.
Nach der Trennung von Rom erhielt das Patriarchat Konstaninopel unter den Kirchen byzantinischer Tradition den Rang eines „Ehren-Primates“. Der Patriarch von Konstantinopel ist der „primus inter pares“ unter den anderen Oberhäuptern der orthodoxen Ortskirchen und spielt die Rolle eines Koordinators auf gesamt-orthodoxer Ebene. Das Patriarchat von Konstantinopel wird das „Ökumenische Patriarchat“ also das „weltweite“ Patriarchat genannt und ist berufen für die gesamte Orthodoxie zu sprechen.
Was die Beziehungen der orthodoxen Kirchen untereinander betrifft, so ist zur Zeit leider wahr, dass sie sich auf dieser Ebene nicht besonders gut verstehen, da jede Kirche zu sehr auf sich selbst bezogen ist und zu wenig auf den universalen Geist ausgerichtet ist.
Neben den hier eben aufgeführten orthodoxen Kirchen, die zur byzantinischen Familie gehören, gibt es auch die so genannten „orientalischen Kirchen“, auch „vor-chalkedonensische Kirchen“ genannt, was ich gleich erklären werde. Sie bestehen aus der Kirche von Äthiopien, der koptischen Kirche Ägyptens, der Kirche von Eritrea, der Kirche Armeniens, dem ältesten christlichen Land der Erde, der syrischen Kirche (zu der auch die älteste Kirche Indiens gehört, die auf den Apostel Thomas zurückgehende Kirche in Südindien) und die assyrische oder nestorianische Kirche. Zwischen den beiden Kirchenfamilien, der byzantinischen und der orientalischen besteht seit dem 5. Jahrhundert keine Abendmahlsgemeinschaft, bzw. eucharistische Gemeinschaft mehr. (Zum Hintergrund: Auf dem 4. Konzil von Chalkedon wurde das Verhältnis der göttlichen und er menschlichen Natur Jesu mit einer Formel bestimmt, die noch heute für die byzantinischen, orthodoxen und für die westlichen, römisch-katholischen und evangelischen Kirchen gültig ist. Aus Gründen, die auch in kulturellen Differenzen zu suchen sind, haben damals die orientalischen Kirchen dieser Formel nicht zugestimmt, mit der Folge ihrer Trennung von den anderen Kirchen.) Dennoch hat der theologische Dialog zwischen den beiden Familien im Jahr 1993 zu dem Ergebnis geführt, dass es keine schwerwiegenden theologischen Differenzen mehr gibt und die Wiederaufnahme der eucharistischen Gemeinschaft wurde empfohlen.

5. KIRCHE UND STAAT
Was die Beziehungen von Kirche und Staat betrifft, so haben die Orthodoxen das Modell von Byzanz geerbt. Im römischen Reich des Ostens, das man auch das byzantinische nennt, beruhten die Beziehungen zwischen Kirche und Staat auf dem Prinzip der „Symphonie“. Der Patriarch und seine Geistlichen widmeten sich den geistlichen Angelegenheiten, in der Kirche, und der Kaiser und seine Minister den weltlichen Angelegenheiten. Man betrachtete den Kaiser selbst als „Bischof der Außenwelt“. Die Untertanen, des einen wie des anderen gehörten zum selben Volk, das fast vollständig christlich geworden war. Sicherlich war diese ideale Symphonie mehr ein Prinzip als eine Wirklichkeit; denn in der Praxis gab es oft Spannungen zwischen den beiden Mächten und sogar Konflikte, die mit Märtyrern bezahlt wurden. Das geschah, weil die Kirche ihre innere Freiheit verteidigen musste, besonders im Hinblick auf den orthodoxen Glauben.
Heute sind die Orthodoxen Kirchen von Griechenland und von Zypern Staatskirchen. Die anderen orthodoxen Kirchen sind vom Staat getrennt, aber sie versuchen zum Wohle des Volkes mit dem Staat zusammen zu arbeiten. Sicherlich gibt es kein ideales Modell für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Worauf es ankommt ist, dass der Staat seinen Bürgern die Freiheit des Gewissens gewährleistet und dass die Kirche den religiösen Pluralismus anerkennt.

6. ÖKUMENE
Die Orthodoxe Kirche nimmt seit den Anfängen an der ökumenischen Bewegung teil. Bereits 1920 richtete das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel einen Brief an alle Kirchen Jesu Christi mit dem Vorschlag, gemeinsam eine Liga zu bilden, die dem Völkerbund vergleichbar sein würde der sich gerade bildete. Das Ziel sollte sein, sich besser kennen zu lernen und sich zur christlichen Einheit hin zu öffnen. Dieser Appell wurde 1948 Wirklichkeit mit der Gründung des Weltrats der Kirchen der seinen Sitz in Genf hat. Die oben genannten Orthodoxen Kirchen sind hier Mitglied, mit Ausnahmen der Kirchen von Georgien und von Bulgarien, die sich vor einigen Jahren zurückgezogen haben.
Diejenige ökumenische Bewegung, an der auch die Römisch-Katholische Kirche teilnimmt, die ja nicht Mitglied im Weltrat der Kirchen ist, hat zum wesentlichen Ziel die Einheit aller Christen durch theologische und geistliche Annäherung. Im Laufe der Jahre konnten sich die verschiedenen Kirchen in einem offenen und lauteren Dialog kennen lernen. So sind viele Vorurteile, die sich im Laufe der Geschichte der Trennung angesammelt haben abgebaut worden und ein Klima des Vertrauens ist entstanden, zumindest zwischen den „historischen“ Kirchen (d.h. einschließlich der meisten protestantischen Kirchen, die bewusst in der Tradition der gesamten Christenheit stehen, wie z.B. die Lutherischen und Reformierten Landeskirchen Deutschlands, anders jedoch als manche Freikirchen). Dennoch sind mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft, die mehr und mehr entchristlicht ist, neue Probleme entstanden, die besonders Fragen der Moral betreffen.
Die Orthodoxen haben Position bezogen im Hinblick auf den theologischen Relativismus einiger Kirchen, der die Fragen des Glaubens und der christlichen Moral betrifft, und auch im Hinblick auf die Organisation des Weltrats der Kirchen selbst, was zu einer Neustrukturierung des Rates geführt hat.
Angesichts aller Probleme, die gegenwärtig mit der Vereinigung Europas und mit der Globalisierung verbunden sind, welche die Kirchen vor große Herausforderungen stellen – angesichts dessen kann man nur hoffen, dass wir begreifen, dass wir nur gemeinsam im Geiste der Demut der Welt das befreiende Zeugnis des Evangeliums bringen können.
 
Metropolit Serafim
Nürnberg, den 4.3.2004