Buch von Metropolit Andrei zum Verständnis der Seelsorge, in deutscher Sprache
Interview mit Pfr. Dr. Jürgen Henkel, Übersetzer und Herausgeber des Bandes, Schiller Verl., Hermannstadt, 2020, 220 S.
Viele rumänische Theologen assoziieren den Namen des evangelisch-lutherischen Theologen Jürgen Henkel aus Selb mit dem von Vater Dumitru Stăniloae (1903-1993). Seine Doktorarbeit „Eros und Ethos – Mensch, gottesdienstliche Gemeinschaft und Nation als Adressaten theologischer Ethik bei Dumitru Stăniloae“ (LIT-Verlag, Münster 2003; rumänische Ausgabe „Îndumnezeire și etică a iubirii în opera părintelui Dumitru Stăniloae”, Editura Deisis, Sibiu 2003) gilt seit ihrer Veröffentlichung in beiden Sprachen 2003 als eines der internationalen Standardwerke über den rumänischen Theologen und Dogmatiker.
2017 veröffentlichte der Theologe aus Bayern dann ein weiteres Werk zu dem großen rumänischen Theologen im renommierten Freiburger Herder Verlag („Dumitru Stăniloae. Leben – Werk – Theologie“), das als erste umfassende Einführung in die gesamte Theologie von Vater Staniloae in Fachkreisen auf breites Echo stieß. Seit seiner Dissertation hat der produktive Theologe als Autor oder Herausgeber eine bemerkenswerte Zahl von wissenschaftlichen Werken, aber auch Studien und Reportagen verfasst oder als Herausgeber veröffentlicht, mit denen er ganz wesentlich zur Verbreitung der rumänischen Theologie im deutschsprachigen Raum beigetragen hat. 2017 hat ihn dafür die Babes-Bolyai-Universität Klausenburg zum „Professor honoris causa“ ernannt.
Vater Jürgen Henkel ist mit einer Rumänin verheiratet und Vater zweier orthodox getaufter Söhne. Er dient als Pfarrer in der evangelisch-lutherischen Pfarrei Selb-Erkersreuth in Oberfranken. Am wohlsten fühlt er sich aber nach eigener Aussage in Rumänien. Für die von ihm initiierte und koordinierte Buchreihe „Deutsch-Rumänische Theologische Bibliothek/DRThB“ („Biblioteca teologică Germano-Română/BTRG”) hat er jüngst den Band „Spovedanie și comuniune” von Metropolit Andrei von Klausenburg übersetzt. Diese ursprünglich 1998 veröffentlichte Studie zählt als eines der wichtigsten Werke der zeitgenössischen orthodoxen Theologie der letzten Jahre. Wir befragten Dr. Jürgen Henkel dazu im folgenden Interview.
P. Ioan Popoiu: Wir wissen, dass Sie in engem Kontakt stehen mit vielen Bischöfen und wichtigen Theologen der Rumänischen Orthodoxen Kirche. Wie kam es genau zur Übersetzung des Buches „Spovedanie şi Comuniune“ von Metropolit Andrei? Wollten Sie speziell dieses Buch der deutschsprachigen Theologie bekannt machen? Was hat Sie zur Übersetzung genau dieses Buches ins Deutsche motiviert?
Dr. Jürgen Henkel: Es war in der Tat eine sehr bewusste persönliche Entscheidung. Metropolit Andrei habe ich noch als Erzbischof von Alba Iulia kennengelernt. Er hat mir damals 1998 bei einer Begegnung in seinem Palais dieses Buch geschenkt. Ich habe es gelesen und war fasziniert. In einer Zeit der geistigen wie geistlichen Orientierungslosigkeit des modernen und säkularen Menschen haben wir hier einen absolut konsequenten Entwurf vor uns, der Seelsorge, Lebensbegleitung und geistliches Leben mit dem priesterlichen Handeln des Geistlichen verbindet. Es ist ein christlicher orthodoxer Gegenentwurf zum Individualismus und der als Emanzipation von Gott falsch verstandenen Autonomie des Menschen. Beides prägt so viele philosophische und geistige Strömungen des Westens seit Jahrzehnten.
Ich habe dieses Werk schon für meine Doktorarbeit über Dumitru Staniloae herangezogen. Seit meiner Lektüre von 1998 habe ich mir vorgenommen, dieses Buch auf Deutsch zu veröffentlichen. 2007 habe ich mit der Übersetzung begonnen. Aber es kam immer wieder viel dazwischen. Jetzt hat es Gott sei Dank geklappt.
P.I.: Eines der Kapitel aus der Arbeit von Metropolit Andrei behandelt das Sakrament der Beichte sowohl theologisch, als auch aus therapeutischer Sicht. Wir wissen, dass in der Evangelischen Kirche keine Einzelbeichte als Sakrament mehr praktiziert wird und trotzdem die Seelsorge als „Sorge um die Seelen“ zu den wichtigsten Aufgaben eines Pfarrers in seiner Pfarrgemeinde zählt. Glauben Sie, dass beide Formen der Beziehung zu den Gläubigen – das Sakrament der Beichte und die Seelsorge – vergleichbar sind oder sich ergänzen?
J. H.: Die evangelische Theologie kennt die Beichte leider nur noch als „halbes“ Sakrament. Manche Theologen der Reformationszeit wollten die Beichte als Sakrament beibehalten, andere nicht. Unabhängig davon gibt es die Beichte auch in der evangelischen Frömmigkeit bis heute. Die Theologie der Aufklärung und des Rationalismus und auch der Kulturprotestantismus konnten als zentrale theologische Strömungen mit der Einzelbeichte nichts anfangen. Theologen wie Wilhelm Löhe aus Neuendettelsau haben die Beichte jedoch hochgehalten. Auch in evangelischen Kirchen gab es lange Zeit noch Beichtstühle. Bis heute gibt es die Möglichkeit der individuellen persönlichen Beichte.
Auch die evangelische „Seelsorge“ versteht sich als Lebensbegleitung. Es gibt allerdings sehr unterschiedliche, oft säkularisierte Konzepte und Modelle. Aber es reicht eben nicht, wenn die Menschen nur in ihrem alltäglichen Leben im Diesseits gestärkt und bestätigt werden sollen, wenn also nur „Seelenmassage“ betrieben wird. Denn das können auch Psychotherapeuten, Psychiater und säkulare Lebensberater. Wichtig ist bei der christlichen Seelsorge immer der Blick auf das Seelenheil, auf die ewige Erlösung des Menschen. Seelsorge darf sich nie darauf beschränken, nur Sorge um ein gelingendes Leben im Diesseits zu fördern. Der Christ, der seinen Glauben ernst nimmt und lebt, steht immer schon mit einem Bein im Himmelreich. Diese Akzentuierung in der Seelsorge kann die evangelische Theologie und Seelsorge von der Orthodoxie lernen. Umgekehrt kann die orthodoxe Seelsorge von der westlichen Seelsorge lernen, etwas stärker auf die heute so komplexe Lebenssituation der Menschen einzugehen. Es reicht eben auch nicht, nur apodiktisch die Gebote Gottes aus der Bibel oder Väterzitate zu rezitieren, ohne diese für das konkrete Leben der Menschen in ihrem Sinn verständlich zu machen.
Metropolit Andrei bietet mit seinem Buch orthodoxe theologische Akribie und Präzision, zugleich aber eine sehr menschenfreundliche und lebensnahe Interpretation ohne erhobenen Zeigefinger. Er bietet keine oberflächliche zivile, säkulare Moral. Besonders der therapeutische Gedanke, dass die Sünde nicht kasuistisch als einzelne Tatsünde betrachtet wird, sondern als seelische Erkrankung ist ganz im Sinne Jesu, der sich selbst als Arzt bezeichnet (vgl. Matthäus 9,12). Sünde wird als Haltung der Entfremdung und Gottferne des Menschen verstanden. Es geht hier nie um eine Verurteilung des Sünders, sondern darum, dass der Priester als Geistlicher Vater seinen Gläubigen hilft, zu Gott umzukehren, Buße zu tun und bei Gott zu bleiben. Das heißt, in Christus zu leben, wie Nikolaos Kabasilas in seinem wunderbaren Werk „Vom Leben in Christus“ festgehalten hat.
P. I.: Inwieweit können die geistlichen Ratschläge aus den alten Büchern der christlichen Spiritualität wie der Philokalia oder den asketischen Büchern nach Ihrer eigenen pastoralen Erfahrung mit den Gläubigen aus Ihrer Gemeinde praktiziert werden?
J. H.: Das ist sehr schwierig in einer Zeit und einer Gesellschaft wie im Westen, die in den letzten 50 Jahren einen völligen religiösen Traditionsabbruch erlebt hat. Die vier Wochen der Adventszeit vor Weihnachten sind heute eine Zeit der Weihnachtsmärkte, der Glühweinpartys und von Plätzchen und Lebkuchen. Da fastet im Westen keiner mehr. Man kann heute froh sein, dass evangelische und katholische Christen am Karfreitag kein Fleisch und keine Wurst essen. Das so umfassende wie konsequente geistlich-asketische Programm der Orthodoxie mindestens 16 Wochen Fastenzeiten im Jahr ist den westlichen Christen nur sehr schwer zu vermitteln. Der Materialismus und der Konsumismus prägen die Menschen sehr. Umso wichtiger ist das konsequente Beispiel der Spiritualität, das viele orthodoxe Christen im Westen den anderen Christen vorleben. Und wichtig ist es auch, dass die orthodoxen Kirchen und Christen ihren Glauben positiv und einladend leben, nicht in Abgrenzung. Orthodoxe Christen haben heute im Westen in den nicht-orthodoxen Ländern aus meiner Sicht sogar einen missionarischen Auftrag. Sie können zeigen, wie konsequent das Christentum auch heute praktiziert und gelebt werden kann.
P.I.: Welcher Abschnitt des Buches von Metropolit Andrei hat Sie auf besondere Weise beeindruckt?
J.H.: Ich finde die Abschnitte zum Verständnis der Sünde und der Beichte und zur Person des Geistlichen Vaters als Höhepunkte dieses Werkes. Es ist wichtig, dass auch an den Geistlichen hohe Ansprüche gestellt werden, nicht nur an die Gläubigen. Diese priesterliche und sakramentale Grundlegung des geistlichen Wirkens des Pfarrers steht einem nur funktionalen Verständnis völlig entgegen. Der priesterliche Dienst ist Berufung, nicht nur Beruf.
P.I.: Gehen wir noch einmal an den Anfang Ihrer Beschäftigung mit der orthodoxen und rumänischen Theologie zurück. Wie sind Sie in Kontakt getreten mit der Theologie von Vater Staniloae? Und inwiefern hat Sie seine Theologie beeinflusst?
J. H.: Ich habe in Erlangen Theologie und Geschichte des Christlichen Ostens bei Karl Christian Felmy studiert. Meine Erstberührung mit der orthodoxen Kirche und Theologie waren Besuche in orthodoxen Klöstern und die Teilnahme mit Seminargruppen von Professor Felmy an orthodoxen Gottesdiensten in Deutschland, die mich liturgisch und von der Feierlichkeit her tief beeindruckt haben.
Ich habe mich dann sehr bewusst entschlossen, von 1993 bis 1995 vier Semester am Protestantisch-Theologischen Institut in Sibiu zu studieren, auch um die Orthodoxie in Rumänien authentisch und hautnah zu erleben. Dort lehrte Hermann Pitters Kirchengeschichte, der die Dogmatik von Vater Staniloae ins Deutsche übersetzt hat. Er hat mich auf die Spur von Vater Staniloae gebracht. Mich haben die rumänischen Klöster fasziniert, die wunderbar feierlichen Gottesdienste, die schöne Ikonographie und auch diese besondere Theologie der Gemeinschaft, auch der besondere Akzent, den Vater Staniloae und die orthodoxe Theologie auf die Heilige Trinität legen.
Es hat mich beeindruckt und auch geprägt, wie strikt theologisch die orthodoxe Theologie argumentiert. Im Westen sind oft philosophische, semantische, soziologische, empirische und psychologische Kriterien wichtig, in der Orthodoxie hingegen ist die Perspektive auf die Welt, den Menschen und das Leben immer eine konsequent theologische bis hin zu einer geistlichen Deutung von Nation und Volk. Das ist absolut ganzheitlich.
P. I.: In der von Ihnen begründeten Buchreihe „Deutsch-Rumänische Theologische Bibliothek“ haben Sie Bücher wie einen Kurs zur Pflegeethik, das rumänische orthodoxe Kirchenstatut auf Deutsch, Sammelbände zur Pneumatologie, zur Askese und Spiritualität, zur Anthropologie, zur Heiligenverehrung sowie zum christlichen Umgang mit dem Tod und sogar einen Band über die Minderheit der Muslime in Rumänien veröffentlicht. Schon die Erwähnung dieser Titel ist beeindruckend, kann doch diese Bandbreite an Themen in einem einzigen Interview gar nicht abgedeckt werden. Wie schaffen Sie es, neben Ihrem Gemeindedienst als Pfarrer theologisch so produktiv zu sein? Arbeiten Sie zeitgleich an mehreren Projekten? Nehmen Sie sich jeden Tag Zeit für Studien? Wie ist Ihr Arbeitsrhythmus und was motiviert Sie dazu?
J. H.: Nun, das ist eine gute Frage. Im Gemeindedienst einer Pfarrgemeinde ist man nicht selbst Herr seines Terminkalenders. Ich habe die Administration über zwei Kindergärten, bin Dienstvorgesetzter von 25 Personen, vor allem pädagogisches Personal. Dazu kommen permanent Baumaßnahmen wie etwa Kirchensanierungen. Und wir haben einen eigenen Friedhof mit allen Problemen von der Verwaltung bis zur Pflege der Hecken und Grünanlagen. All das koordiniert der Pfarrer. Hinzu kommen die klassischen Aufgaben wie Gottesdienste, Geburtstagsbesuche, Konfirmandenunterricht und Gemeindeveranstaltungen.
Die Arbeit an Büchern ist da für mich fast schon Erholung. Ich lese und schreibe in jeder freien Minute, auch im Urlaub. Ich genieße es, mich mit Theologie zu beschäftigen, denn genau dafür habe ich Theologie studiert. Nirgendwo kommt man Gott so nahe wie im Gebet der Seele und in der Beschäftigung des Geistes mit der Theologie. Ich arbeite viel abends und schreibe oft bis spät in die Nacht. Wenn ich an Übersetzungen arbeite, dann mache ich oft „Frühschicht“ von fünf bis sieben Uhr. Wichtig ist natürlich, dass diese Bücher unserer Reihe auch von anderen Autoren stammen, nicht nur von mir. Ich arbeite immer wieder an Projekten parallel, weil es anders gar nicht geht. Und ich freue mich, wenn die Bücher unserer Reihe Christen aus Ost und West einander näher bringen. Das ist meine Motivation.
P. I.: Was sind Ihre Buchprojekte für die nächste Zeit?
J. H.: Unser Hauptproblem ist immer die Finanzierung. Wenn wir mehr Sponsoren hätten, dann könnten wir in unserer Reihe noch mehr Bücher publizieren.
Konkret plane ich derzeit gemeinsam mit Vater Professor Dr. Daniel Buda, dem Dekan der Orthodoxen Fakultät von Sibiu, ein großes Handbuch zur Rumänischen Orthodoxen Kirche mit rund 100 Artikeln von über 80 Theologen. Die renommierten rumänischen und internationalen Autoren stammen aus Rumänien, Deutschland, Österreich, der Schweiz und England. Das wird ein Buch mit 1200 bis 1500 Seiten speziell für den deutschsprachigen Raum, also vollständig auf Deutsch. Das Buch soll 2022 erscheinen. Alle Aspekte der Kirchen- und Theologiegeschichte, der Spiritualität, des Mönchtums, der religiösen Kultur, des Kirchenrechts und des Verhältnisses von Staat und Kirche sowie des sozialen, publizistischen, katechetischen Handelns der Rumänischen Orthodoxen Kirche wird hier dargestellt.
Persönlich veröffentliche ich demnächst einen Kunst- und Stadtführer zu Schäßburg, nachdem ich letztes Jahr schon einen über Hermannstadt veröffentlicht habe. Auch ein Buch über das vielfältige Christentum und die kirchliche Landschaft im Banat ist in Planung.
Interview von Hierom. Dr. Ioan Dumitru Popoiu