Die orthodoxe Beteiligung am ökumenischen Dialog (Paris, 5.10.2005)

Zum 80-jährigen Gründungsjubiläum des Instituts St. Serge in Paris, 5. Oktober 2005

Zum 80 jährigen Gründungsjubiläum des Instituts St. Serge in Paris über Ökumene zu sprechen, ist denke ich eine Selbstverständlichkeit. In einem nicht-orthodoxen Umfeld entstanden, mit dem das Institut von Anfang an einen kontinuierlichen Dialog führen mußte, bestand und besteht das Institut seit seiner Gründung mit ökumenischer Unterstützung. So sind auch die meisten seiner Studenten Stipendiaten der Katholischen Kirche oder ökumenischer Einrichtungen.

Ökumenische Offenheit hat das Engagement der orthodoxen Professoren in St. Serge von Anfang an gekennzeichnet, seit die Orthodoxen die Grundlagen ihres Mitwirkens bestimmt haben. Auch waren Professoren des Instituts über lange Jahre Mitglieder der Kommission „Faith and Order“ des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Die ökumenische Zusammenarbeit – ich möchte hier nur die Verbindungen der ersten Professoren des Instituts mit den Begründern der patristischen Sammlung „Sources chretiennes“ erwähnen – hat jenen Professoren sehr geholfen, die eigene patristische Tradition der Kirche wiederzuentdecken und in ihrem Licht eine lebendige Theologie zu formulieren, die immerwährend vom Leben der Kirche inspiriert ist, das sie zum Ausdruck bringt.

Es ist bekannt, daß das Zweite Vatikanische Konzil sich bei der Formulierung des Dekrets über die Kirche „Lumen Gentium“ aus der Theologie von Nikolaj Afanasjev – Professor in St. Serge – inspiriert hat, der die Lokalkirche, die sich um den Bischof zur Feier der Eucharistie sammelt, mit der Universalkirche identifiziert.

Ich meine, daß die besondere Bedeutung der Theologie, die in St. Serge gelehrt wird, darin besteht, die Scholastik zu überwinden und aus der Theologie wieder eine lebendige Funktion der Kirche zu machen. Also das Bemühen, aus jener „babylonischen Gefangenschaft“ (Vater George Florovskij, Professor an dem Institut), in der die orthodoxe Theologie seit Jahrhunderten (17. Jh.) verhaftet war, zu entkommen. Gewiß ist es nicht leicht, ein über Jahrhunderte etabliertes theologisches System zu überwinden, das dem Theologen die Arbeit erleichtert, indem er nur zu wiederholen hat, was andere vor ihm gesagt haben, um garantiert auf dem sicheren Boden der „Tradition“ zu stehen.

Eine solche verstaubte „Tradition“ jedoch vermittelt nur intellektuelle Erkenntnisse, ohne den Geist zu verwandeln, oder sie tötet sogar den Geist, was noch schlimmer ist. Denn kein theologisches System ist in der Lage, Gott den Unbeschreiblichen oder das Geheimnis des Glaubens in Worte zu fassen… Trotzdem brauchen wir ein theologisches System, um den christlichen Glauben zu vermitteln, denn der Glaube entspricht doch dem vernünftigen Denken und der menschlichen Logik. Aber doch der Glaube ist nicht nur logisch, sondern überschreitet die menschliche Logik. Daher sagte Vladmir Losskij, daß wir sofort, wenn wir ein theologisches System aufgestellt oder es angewandt haben, wir dieses wieder zerschlagen müssen, damit wir nicht unser Denken darin einsperren. 

Wenn wir uns aber selbst in ein theologisches System einsperren, dann reden wir nicht mehr von Gott dem Lebendigen, sondern mehr von dem Gottesbild, das wir über Ihn haben, oder unser Bild von Seiner Kirche. Gott und die Kirche werden so zu „Objekten“, die wir nach unseren eigenen persönlichen Vorstellungen instrumentalisieren und manipulieren. Dies kann so weit gehen, daß eine solche Theologie nichts mehr gemein hat mit der Kirche, ihrem Gebet und ihrer Mystik, die dann zu bloßen Studienobjekten werden. Daher gibt es „Theologen“, die fast losgelöst sind vom Leben der Kirche, andere aber das Geheimnis der Kirche lehren und sie vor „Atheisten“ oder „Häretikern“ warnen.

Genau diese Art der Theologie ist dem Institut St. Serge fremd, wo die Kirche und die Göttliche Liturgie zusammen mit den anderen Gottesdiensten den Mittelpunkt des gemeinsamen Lebens der Professoren und Studenten bilden. 

Vater Sergeij Bulgakov († 1944), der nie seine Dogmatik-Vorlesung hielt, ohne vorher mit seinen Studenten die Göttliche Liturgie gefeiert zu haben, ist dafür das beste Beispiel. Denn er sagte: „Meine Vorlesung ist nichts als die Fortführung der Liturgie; sie bringt unsere Gotteserfahrung in der Göttlichen Liturgie zum Ausdruck“.

So ist die orthodoxe Theologie eine mystische Theologie, die sich fortwährend aus der Erfahrung inspiriert, die die Kirche mit dem Göttlichen Geheimnis macht, wie aus der persönlichen Gotteserfahrung des Theologen. Die patristischen Sentenzen: „Theologe ist, wer betet“ und „wenn Du Gott nicht gesehen hast, kannst Du nicht über Ihn reden“ sind aktueller denn je. Denn die Gefahr des Rationalismus, d.h. eines pur intellektuellen theologischen Denkens, das leicht in ungeistliche Spekulation abdriften kann, ist heute größer denn je. Ein solches Denken tötet den Glauben und das Geheimnis des Glaubens, die von einer vollkommen anderen Ordnung sind, als der natürlichen Ordnung, die der eigenen menschlichen Intelligenz eigen ist.

Wenn der Verstand sich nicht vor dem Geheimnis zurücknimmt, wenn der Geist sich nicht fortwährend vom Glauben kreuzigen und verwandeln läßt, wird er Unheimliches produzieren. Ich denke hier an die extremen Formen von religiösem Exklusivismus, der jedes Kirchesein außerhalb der eigenen Kirche leugnet. Alle anderen sind Häretiker, alle sind verdammt, alle sind zu ewiger Mühsal verurteilt. Ein solcher Exklusivismus kann soweit gehen, selbst in der eigenen Kirche alle zu verdammen, die anders denken.

Aber ich denke auch an uns als diejenigen, die bequem in unserer Kirche leben, der Inhaberin der Fülle der Wahrheit, mit einer beneidenswerten Tradition, ohne daß wir dabei an unsere anderen Brüder denken, ohne daß wir an der Tragödie leiden, die die Trennung der Christen darstellt. Gewiß ist jeder Einzelne von uns angesichts dieses großen Dramas klein und ohnmächtig. Und doch muß jeder seine Verantwortung für die Sünde der Spaltung auf sich nehmen, jeder muß für die Einheit beten und das Seine tun, um ein Faktor der Einheit zu werden. Förderer des Dialogs und der Einheit in unserer gespaltenen Welt zu werden, ist ohne Zweifel unsere ureigene und vielleicht sogar wichtigste Mission.

Ich frage mich manchmal, warum gerade wir Orthodoxen uns so wenig dieses Dramas der Spaltung der Christen bewußt sind und im Dialog zur Wiedererlangung der Einheit so wenig aktiv sind. Wir vermitteln oft den Eindruck, daß wir den Dialog höchstens wie eine Last empfinden, statt daß wir ihn selbst provozieren, fördern und ermutigen. Ich denke, daß wir aus Gründen unserer unheilvollen Geschichte den Sinn für die Mission in großem Maße verloren haben, der aber doch wesentlich ist für die Kirche, die gerade von der Mission lebt. Aus der Inneren Mission unter den eigenen Gläubigen, die unablässig zu Christus umkehren müssen, indem sie sich bewußt mit den Wurzeln des Glaubens der Kirche vertraut machen, und der Äußeren Mission unter den Nicht-Christen oder denen, die sich vom orthodoxen Glauben entfernt haben. Die orthodoxen Pioniere der Ökumene wie Vater George Florovskij, Professor in St. Serge, haben gezeigt, daß das ökumenische Engagement der Orthodoxen Kirche als Zeugnis von der Fülle des Glaubens einen Teil ihrer Äußeren Mission darstellt.

Doch die Tatsache, daß wir Orthodoxen der festen Meinung sind, die Fülle des Glaubens zu bezeugen und der Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche anzugehören, der Kirche der Apostel und Väter, die sich ganz der Verteidigung des orthodoxen Glaubens verschrieben hat, gibt uns oft ein Gefühl der Selbstzufriedenheit und läßt uns in dem Glauben, daß unsere Mission sich in der Verteidigung der Orthodoxie erschöpft. Einige Orthodoxe glauben, daß allein schon die Tatsache an sich, daß du dich im ökumenischen Dialog engagierst, einen Verrat an der Orthodoxie bedeutet. Es wird willentlich oder unwissentlich vergessen, daß die gleichen Väter alle Anstrengungen unternommen haben, zu denen sie fähig waren, um die Häretiker in die Kirche zurückzubringen.

Denken wir an den heiligen Basilius den Großen, der in seinem Buch „Vom Heiligen Geist“, um die Pneumatomachen für sich zu gewinnen – jene Leugner der Göttlichkeit des Heiligen Geistes – den Heiligen Geist nie direkt Gott nennt, wenn auch das ganze Buch eine einzige Demonstration der Göttlichkeit des Heiligen Geistes darstellt.

Denken wir auch an die „Bekennersynode“ von Alexandrien im Jahr 362, die auf Verlangen des hl. Athanasius des Großen beschlossen hat, die Semiarianer zu empfangen (die damals sehr zahlreich waren), ohne den erbitterten Streit um den expliziten Gebrauch des im Credo benutzten Terminus‘ „homoousios“ (Christus ist eines Wesens mit dem Vater) fortzuführen, dessentwegen sie sich von der Kirche abgespalten hatten: „Ladet sie zu Euch ein und empfangt sie wie Eltern ihre Kinder empfangen. Empfangt sie und verlangt von ihnen nichts anderes, als daß sie die arianische Häresie verdammen und den von unseren Vätern in Nizäa gebilligten Glauben.“ („An die Antiochener“, III ff.) Und die Beispiele ließen sich fortsetzen. Aus all dem wird die pastorale Sorge der Kirchenväter für die Erlösung aller deutlich. Die heiligen Kirchenväter waren sich stets der Gefahr bewußt, daß eine Präzision des Glaubens in Glaubenssätzen zu verschiedenen Interpretationen des Glaubens führt und zu Schismen, wie uns die Kirchengeschichte beweist. Für diese Kirchenväter ist der Glaube keine Summe von abstrakten Dogmen, sondern eine Person: Jesus Christus, Gott und Mensch, der für uns Sein Leben gibt, damit wir das ewige Leben erlangen.

Der heilige Hilarius von Poitiers († 367) hat wörtlich erklärt, daß die Kirchenväter den Glauben gegen ihren eigenen Willen definiert haben, gezwungen von den Häresien der Zeit, denn der Glaube ist uns gegeben, um ihn zu leben, nicht um ihn in Formeln zu verwandeln, die allesamt unzureichend sind, um das Geheimnis des Glaubens auszudrücken.

Deshalb haben die Kirchenväter auf den Ökumenischen Konzilen sich stets bemüht, die Zahl der Dogmen auf ein Minimum zu reduzieren. Und damit die so beschlossenen Dogmen keine abstrakten Wahrheiten, einfache Objekte der Wissenschaft und des theologischen Streits blieben, wurden sie in die Liturgie als Kultus der Kirche eingeführt. So werden die Dogmen zu einem Lob Gottes, das im Gebet der Kirche selbst erklingt, das darin auch an Tiefe gewinnt. Denken wir nur an die acht dogmatischen Hymnen in den Vespergottesdiensten am Samstagabend. Aber unser ganzer Gottesdienst ist gegründet auf den Dogmen der Kirche. Außerhalb seines liturgischen Kontextes und ohne Liebe kann auch das Dogma leicht zu einem Idol verkommen, d.h. zu einem Objekt theologischen Streits.

Der interkonfessionelle theologische Dialog kommt schwer voran, weil er in erster Linie von Spezialisten betrieben wird, die mehr Theoretiker des Glaubens, als Menschen des Gebets und Geistträger sind. Daher rührt es auch, daß jede Seite sich in diesem Dialog als Gefangener des eigenen theologischen Systems und der eigenen Tradition präsentiert. Doch in einem Dialog muß jeder aus sich herausgehen und sein eigene Ich ablegen, um den anderen selbst zu entdecken, ohne dabei sein eigenes Sein und die eigene Identität zu verlieren. Das ist das Paradoxon echter Ökumene. Das verlangt eine fortwährende Bemühung um die Reinigung des eigenen Geistes und Herzens. Olivier Clément (Professor am Institut) spricht von der „Ökumene der Kontemplativen“, die allein imstande sei, die vormalige Einheit, die tiefer war und ist als die Spaltung, wiederzuentdecken und zu leben.

Die Heiligen leben schon in der Einheit, weil sie in sich selbst jede Spaltung und Trennung überwunden haben. In ihrem durch Gebet und Askese geläuterten Herzen rekapitulieren sie die ganze Menschheit und den ganzen Kosmos. Wie Christus selbst, sind sie von nichts und niemand mehr getrennt.

Statt einer Schlußfolgerung würde ich sagen, daß die, welche am ökumenischen Dialog teilnehmen, Heilige sein sollten oder zumindest vom Heiligen berührt sein sollten.

Metropolit Serafim

Paris, 5. Oktober 2005