Durch die Wunden des Gekreuzigten kommen wir zur Einheit … sogar zur Einheit der Kirchen ( Wien, 21.03.2007)
Zu einem Kongress der Äbten der Römisch-Katholischen Klöster in Österreich, Wien, 21. März 2007
Die Zeit der sieben Fastenwochen vor Ostern, die wir Christen in diesem Jahr alle gemeinsam begehen, jede Kirche nach ihrem Brauch, ist die geeignetste Zeitraum im Kirchenjahr, um das Leben unseres Erlösers und Heilands Jesus Christus zu meditieren, in seinem Aspekt des Leidens, des Kreuzes und des Gefühls der Verlassenheit selbst von Gott: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Wie wir alle wissen, ist das einer der Kernpunkte der Spiritualität der Fokular-Bewegung.
Gewiss ist für uns Christen die Meditation der Passion Christi nicht nur eine intellektuelle oder sentimentale Reflexion, sondern eine reale Teilhabe am Leben Christi, das allmählich auch zu unserem Leben wird. Für uns ist es das „Leben in Christus“. Der heilige Nikolaos Kabasilas, ein Laie aus dem 14. Jahrhundert, beschreibt dieses „Leben in Christus“ als ein fortschreitendes Sich-Aneignen der Etappen auf dem Lebensweg unseres Herrn Christus, von der Geburt an über die Passion, Kreuzigung und Auferstehung, „bis dass wir alle hinankommen … zum vollen Maß der Fülle Christi.“, wie Paulus im Brief an die Epheser schreibt (Eph 4, 13), also bis wir zur Identifikation mit Ihm kommen: „Ich lebe; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2, 20) Auch der heilige Augustinus sagt, dass wir nicht nur gerufen sind, einfach Christen zu werden, sondern Christus selbst. Und weil Christus Einer aus der heiligen Dreifaltigkeit ist, haben wir durch Ihn Teil an der Göttlichen Dreifaltigkeit und werden „der göttlichen Natur teilhaftig“ (2. Petr. 1, 4). Die orthodoxe Theologie sieht den Sinn der Schöpfung gerade in der Vergöttlichung des Menschen und des Kosmos, also in ihrer Erfüllung mit göttlichen Energien, wenn Gott „alles in allem sein wird“ (1. Kor 15, 28).
Diese schöne Theologie bleibt tot, wenn sie uns nicht unser ganzes Leben lang und ohne Vorbehalte zum Kampf gegen die Sünden und um die Erlangung der Tugenden verpflichtet. Daher sagt der Erlöser: „… das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt tun, reißen es weg“ (Mt. 11, 12). Der heilige Apostel Paulus vergleicht das christliche Leben mit dem Leben von Sportlern, die sich viele Entbehrungen auferlegen, um den Siegespreis zu erlangen (vgl. 1. Kor. 9, 24-27). Und er ermutigt uns auch mit den Worten: „Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf wider die Sünde“ (Hebr. 12, 4).
Ausgehend von diesen biblischen Texten und einer besonders tiefsinnigen und realistischen Analyse der menschlichen von der Sünde geschädigten Natur geben uns die heiligen Väter aus der asketischen Tradition der Ostkirche eine Menge an geistlichen Ratschlägen und Wegweisungen für den geistlichen Kampf zur Befreiung von den Leidenschaften und zur Erlangung der christlichen Tugenden, durch die wir Christus immer ähnlicher werden.
Ich werde nun nicht weiter die besondere Bedeutung darlegen, die alle diese Väter dem sakramentalen Leben beimessen, besonders der Taufe, der Beichte und der Eucharistie oder der Kommunion an Leib und Blut Christi. Das christliche Leben kann nicht außerhalb der Kirche gelebt werden, außerhalb der sakramentalen Gemeinschaft mit Christus und den Mitchristen oder außerhalb der liturgischen Wirklichkeit der Kirche. Das christliche Leben ist gerade die permanente Verwirklichung der Taufe, die Aktualisierung der in der Heiligen Taufe empfangenen und in der Eucharistie und den anderen Sakramenten und Segenshandlungen der Kirche stets erneuerten Gnadengaben des Heiligen Geistes. Die Vollendung oder Vergöttlichung des Menschen ist ein Wirken ausschließlich der Gnade und kein Ergebnis eigener Bemühungen, die aber sehr wohl im Prozess des Kampfes gegen die Leidenschaften absolut notwendig sind. Dieselben Väter sagen, dass niemand allein erlöst wird, sondern nur in der Gemeinschaft mit anderen, in der Gemeinschaft der Kirche. Unsere persönliche Erlösung hängt von unserem Bruder ab, von den Beziehungen, in denen wir zu anderen leben. Einer der Väter sagt: „Wenn du deinen Bruder gewonnen hast, hast du die Erlösung deiner Seele gewonnen; wenn du deinen Bruder verloren hast, hast du sie verloren.“
Das geistliche Leben ist eine permanente Synergie zwischen dem Wirken der Gnade und dem eigenen Bemühen um die Befreiung von den Leidenschaften. Die Art und Weise, wie sich die Gnade mit dem eigenen Bemühen verbindet, bleibt ein großes Geheimnis. Einerseits sagen große Mystiker, dass „alles Gnade ist“, andererseits sagen sie:„gib dein Blut und du empfängst die Gnade“, das heißt: wehre dich bis aufs Blut gegen die Sünde und tu alles Gute, dessen du fähig bist, damit die Gnade alle Gegensätze in dir und alle Hindernisse überwindet um sich frei manifestieren und wirken kann. Wenn Gott allen, die an ihn glauben „Gnade um Gnade“ (Joh 1, 16), schenkt, so ist es unsere Pflicht, die Gnade im Glauben zu empfangen und sie in uns wirken zu lassen, indem wir uns persönlich im Kampf gegen die Sünde und zur Erlangung der Tugenden engagieren.
Die geistlichen Schriften (wovon die wichtigsten in der Sammlung der „Philokalia“ enthalten sind) beschreiben detailliert die verschiedenen Sünden und Leidenschaften, die den Menschen versklaven, indem sie die Gnade in ihm wirkungslos werden lassen, und geben präzise Ratschläge für den Kampf zur Befreiung von der Knechtschaft der Sünde.
Die Sünde spaltet die menschliche Natur, zerstört die innere Ausgeglichenheit und die Harmonie der Seelenkräfte, die im Herzen ihre Mitte finden. Versklavt unter die Sünde, verliert der Mensch seinen Seelenfrieden, seine Einfachheit und wird eine gespaltene Persönlichkeit. „Was ist dein Name? Mein Name ist Legion.“ (Markus 5,9) Die besten Mittel zum Kampf gegen die Sünde sind das Gebet, die Askese und das Ertragen von Leid.
Über das Gebet sage ich nur, dass bei seiner Verrichtung „der Verstand mit dem Herzen vereint“ sein muss, oder es mit dem „ins Herz herabgestiegenen Verstand“ verrichtet werden muss. Ich habe schon gesagt, dass das Herz das Zentrum aller physischen und psychischen Kräfte des Menschen ist, der Sitz und die Quelle der Gefühle, des Willens und der Gedanken. Der Verstand ist nur eine Energie des Herzens, sagt der heilige Gregorios Palamas (14. Jh.). Er findet nur dann Ruhe, wenn er „nach Hause“ zurückkehrt, in das Herz, was durch das Gebet geschieht. Das erste Zeichen, dass der Verstand mit dem Herzen vereint ist, dass wir Wärme in der Gegend des Herzens beim Gebet spüren. Dies ist die Wärme der Gnade, die die Einheit des inneren Menschen wieder herstellt. Er wird immer stärker die reale ontologische Einheit mit der ganzen Menschheit und Welt spüren und erleben, die in seinem Herzen wieder hergestellt wird. Diese Erfahrung der ontologischen Einheit mit der ganzen Menschheit und der ganzen Welt ist nichts anderes als der Sieg der Gnade über die Sünde, der Sieg der Liebe. Der auf diesem Stand angekommene Christ wird mit Tränen beten, wie der heilige Isaak der Syrer sagt, nicht nur wegen seiner Sünden, sondern wegen der Sünden der ganzen Welt, er wird für die ganze Schöpfung beten, die wegen der Sünden der Menschheit leidet, und er wird sogar für die Dämonen beten in dem Wunsch, auch diese aus der ewigen Höllenqual erlöst zu sehen.
Das Gebet wird von der Askese flankiert, das heißt von der Selbstzügelung, dem Verzicht und der Nüchternheit. In der orthodoxen Tradition spielt der Verzicht auf manche Speisen eine extrem wichtige Rolle, vor allem beim Kampf zur Befreiung von den Leidenschaften. Der Verzicht auf Fleisch und Milchprodukte in den Fastentagen (die mehr als die Hälfte der Tage des Jahres ausmachen) und die Beschränkung auf vegetarische Speisen diszipliniert die Sinne und hilft dem Verstand, sich beim Gebet auf das Herz zu konzentrieren. „Niemand kann mit vollem Magen beten“, sagt eine asketische Weisheit. Das christliche Leben ist an sich ein Leben der Askese, in Selbstzügelung und Verzicht auf viele Lustbarkeiten und noch nicht von den Leidenschaften gelöste Begierden des Leibes.
Der heilige Apostel Paulus quälte seinen Leib und versklavte ihn (vgl. 1. Kor. 9, 27), um ihn aus dem „Gesetz der Sünde“ zu befreien (vgl. Röm 7, 23). Infolgedessen haben die großen Wüstenväter, beginnend mit dem heiligen Antonius, der auch „der Große“ und „Vater des Mönchtums“ genannt wird, ein extrem asketisches Leben geführt. Wenn ich an meinen Namenspatron, den heiligen Serafim von Sarov, denke, kann ich mich nur wundern über sein extrem asketisches Leben mit Entbehrungen, die das menschliche Maß übersteigen. Aber genau durch dieses harte Leben hat der Heilige den Heiligen Geist empfangen, so dass er sagen konnte, „dass der Sinn des christlichen Lebens der Empfang des Heiligen Geistes ist“. Denn der Heilige Geist ist es, der unser inneres Wesen verwandelt bis hin zum Ähnlichwerden mit Christus. Wer den Heiligen Geist hat, der hat die Liebe Christi, die ihn mit Christus, allen Menschen und der ganzen Schöpfung vereint.
Die Versuchungen und Leidenserfahrungen, die unser ganzes Leben lang über uns kommen, sind Teil einer göttlichen Pädagogik, die nur sehr wenige verstehen oder wenigstens akzeptieren können. Angesichts des Bösen und vor allem angesichts des Leidens Unschuldiger sind manche versucht, Gott zu „rechtfertigen“, wie damals die Freunde des Hiob, um einen „höheren Sinn“ im Leiden zu finden. Es ist wahr, dass unser Herr und Heiland Jesus Christus die ganze gefallene menschliche Natur auf sich genommen hat mit allen Konsequenzen bis hin zum Tod. Er durchlebte alle Situationen, die der Mensch auch durchleben kann, bis hin zum Gefühl des „Verlassenheit“ selbst von Gott, und den Tod, um sie aus Fluch (vgl. Genesis 2, 17; 3, 16-19) in Segen zu verwandeln und alles mit Leben zu erfüllen. „Ich bin gekommen, damit die Welt das Leben habe zur Fülle“ (Joh 10, 10). In Christus sind das Leid, das Unglück und sogar der Tod transfiguriert worden, d. h. sie wurden verwandelt, sie werden zu befreienden, heiligenden Erfahrungen; aus Mitteln zur Strafe werden sie zu Mitteln der Erlösung für die, die sie im Glauben annehmen. In diesem Sinne sagte der französische Dichter Paul Claudel, dass Christus nicht in die Welt gekommen ist, um das Problem des Leids zu „lösen“, nicht einmal, um ihm einen Sinn zu geben, sondern Er ist gekommen, um das Leid mit Seiner Gegenwart zu erfüllen.
Ich glaube, dass nichts den Menschen Gott näher bringt als Leid und Unglück, wenn diese im Glauben akzeptiert und ertragen werden. Besonders in Leid und Unglück gibt sich der Mensch über seine eigene ontologische Unfähigkeit und Schwäche Rechenschaft, sowie über seine absolute Angewiesenheit auf den Beistand Gottes. Das Gebet erreicht in Zeiten der Prüfung eine ganz andere Tiefe. Das Leid hilft uns grundsätzlich, uns allmählich ganz Gott zu ergeben und unsere ganze Hoffnung nur auf Ihn zu setzen. So treffen wir im Leiden Christus selbst, der nach Pascal bis zum Ende der Welt in der Agonie ist und der unser Leiden auf sich nimmt und es verwandelt. Das Leid zerstört den Menschen nicht, es verwandelt ihn. Deswegen treffen wir in der orthodoxen Ikonographie niemals auf Darstellungen der Kreuzigung mit einem gequälten und entstellten Christus, der Schrecken vor dem Leiden und Furcht vor dem Tod einflößt. Christus hat den Tod mit Mannhaftigkeit, mit Würde und sogar mit Verlassenheit empfangen. Christus bleibt König auch in der größten Erniedrigung am Kreuz. Am Kreuz zeigt Christus Seine Herrschaft noch umfassender und mit noch mehr Kraft, weil Er gerade durch das Kreuz den Tod besiegt, den „letzten Feind“ und größten Feind des Menschen. „Christ ist erstanden von den Toten, hat im Tode den Tod besiegt, und denen in den Gräbern das leben geschenkt.“ wie wir Orthodoxen am Ostertag und in der Osterzeit singen.
Die Tat eines Königs ist nach Johannes Chrysostomos gerade nicht die, vom Kreuz herabzusteigen, um den Durst der Menge nach einem Wunder zu befriedigen (vgl. Matthäus 27, 39-42), sondern Sein Leben für die Untertanen zu geben. Wie hätte die Welt erlöst werden können, wenn Christus vor Leid und Kreuz geflohen wäre? Die Erlösung der Welt und unsere eigene Erlösung bedeutet grundsätzlich gerade das freiwillige Auf-Sich-Nehmen des Kreuzes, des Leidens und des Todes und die vollständige Hingabe an Gott, der alles in Sieg, Freude und Leben verwandeln wird. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, sagt Christus zum Apostel Paulus, der sich freut in seiner Schwachheit, seinen Mishandlungen und seinen Ängsten, auf dass die Kraft Christi stärker in ihm wohne. „Denn wenn ich schwach bin, bin ich stark.“(2. Kor. 12, 9-10).
Durch das wahre Gebet mit dem in das Herz versenkten Verstand, die freiwillig ausgeübte Askese, besonders auf dem Weg der Befreiung von den Leidenschaften, das Ertragen von Leiden und das Auf-Sich-Nehmen des Kreuzes mit Glaube, Hoffnung und Gelassenheit nähern wir uns Christus an und werden eins mit Ihm.
Das spürbare Zeichen dieser inneren Verwandlung ist ein zu Mitleid fähiges Herz, das mit der ganzen Menschheit und der Schöpfung mitleidet. Ein solchermaßen mitleidendes Herz hat schon jegliche Spaltung, Trennung und Zersplitterung überwunden. Ein solches Herz ist eins mit Christus, eins mit der Menschheit und eins mit dem ganzen Kosmos.
Chiara Lubich empfand am Ende des Krieges inmitten der geistigen und materiellen Ruinen in ihrem Herzen dieses überwältigende Mitleid, von dem der heilige Isaak der Syrer sagt, dass es das Zeichen der Heiligung ist.
So ist die Fokolar-Bewegung entstanden auf Ruf und Auftrag Jesu Christi hin, um das Feuer in den Herzen der Menschen, zuerst der Christen, aber auch aller anderen Religionen zu entzünden.
Metropolit Serafim