Sonntag des Kranken von Bethesda (Predigt zu Joh. 5,1-5; Stuttgart, 6.05.2012)
Predigt am Sonntag des Kranken von Bethesda, während des Sonntaggottesdienstes in der Rumänisch-Orthodoxen Kirche von Stuttgart, Live-Fernsehansprache ZDF, 6.05.2012
Geliebte Gläubige, liebe Schwestern und Brüder, liebe Fernsehzuschauer,
Christus ist auferstanden!
Erlauben Sie mir ein Wort, das ich Ihnen ans Herz legen möchte, und dass ich auf drei Aspekte unseres heutigen Evangeliums vom Kranken am See Bethesda, der in der Übersetzung „See der Barmherzigkeit“ heißt, eingehe.
Zunächst scheint die Frage Jesu: „Willst du gesund werden?“ überflüssig zu sein. Denn wer möchte nicht gesund sein! Doch der Herr stellt dem Kranken wie auch uns diese Frage in der Absicht, uns aufmerksam darauf zu machen, dass das Wiedererlangen der Gesundheit auch vom Willen des Menschen abhängt, selbst wenn die Heilung ausschließlich ein Geschenk Gottes ist. Ein Geschenk freilich, das auch unsere Mitwirkung durch Glauben und Gebet sowie die Hilfe unserer Nächsten verlangt. „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter“ (1. Korinther 3,9), wie der Apostel Paulus schreibt. Die Frage Jesu hätte in der Seele des Kranken eine Lawine von Vorwürfen und Kritik auslösen können, wie dies oft geschieht, wenn Menschen nicht in der Lage sind, ihr Leiden anzunehmen. Und trotzdem antwortet der Kranke, ohne über seinen Zustand zu klagen, Gott zu beschimpfen oder seine Nächsten zu richten, die ihm 38 Jahre lang nicht geholfen haben, ganz einfach, aber auch mit Schmerz in der Seele: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt.“ Der Kranke hatte also den Willen, gesund zu werden und gewiss auch den Glauben daran, denn sonst hätte er nicht über so viele Jahre die Hoffnung auf Heilung gehegt. Aber er hatte keinen Menschen, der ihm half. Das ist eine typische Situation. Wir verlieren häufig die Geduld im Leiden und die Hoffnung auf die Hilfe Gottes. Doch Geduld und Hoffnung sind ein Teil unseres Zusammenwirkens mit Gott beim Heilungsprozess. Geduld im Leiden und Hoffnung auf dessen Überwindung sind ein Teil unseres Glaubens, dass Gott uns nie verlassen wird, dass Er uns noch näher ist, wenn wir leiden und dass Er alles zum Wohle derer wirkt, die an Ihn glauben und Ihn lieben (vgl. Römer 8,28).
Der zweite Aspekt, der unsere Aufmerksamkeit verdient, ist die Antwort des Kranken: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mir hilft.“ Wie viel seelisches Leiden neben dem körperlichen Leiden hat sich in diesem Menschen in 38 Jahren angesammelt, wenn er sich von allen verlassen sieht. Dies gilt aber nicht nur für diesen Mann, sondern für Millionen von Menschen, Schwestern und Brüdern, die auch heute von ihren Nächsten vergessen werden. Einsamkeit ist eine der größten Krankheiten der modernen Gesellschaft. Und wie viel Leid könnte gelindert werden, wenn die Menschen solidarischer wären und aufmerksamer für das Leiden ihrer Mitmenschen. Wir wissen, dass das Wesen des christlichen Lebens genau in der Solidarität zwischen den Menschen sowie gegenseitiger Hilfe besteht. Das Beten, das Fasten und jede andere Form der Askese haben keinen anderen Sinn als die Überwindung des Egoismus in uns, damit sich unser Herz in Liebe für unsere Mitmenschen öffnet. Denn wenn wir die Liebe nicht haben, dann haben wir gar nichts. Dann wären wir die ärmsten Menschen, selbst wenn wir die ganze Welt besäßen! Und weil heute so viel Leid in der Welt ist, haben unser Kirchenoberhaupt Patriarch Daniel sowie die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche dieses Jahr zum „Jahr der Pflege der Kranken und unserer leidenden Mitmenschen“ erklärt, auch um das Engagement der Kirche in diesem Bereich zu stärken. Wir sind alle aufgerufen, uns mit noch mehr Eifer um Kranke und Menschen in Not zu kümmern. Dies auch in dem Wissen darum, dass unser Erlöser Jesus Christus sich gerade mit den Kranken, mit den Hungernden und Dürstenden, mit Gefangenen und Schwachen identifiziert – mit einem Wort: mit allen, die der Hilfe ihrer Nächsten bedürfen (vgl. Matthäus 25, 35-45). Wobei niemand sagen kann, dass er keine Hilfe von anderen Menschen braucht. Denn der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen, das sich nur in der Gemeinschaft und mit der Hilfe der anderen leben kann. Und auch wenn wir selbst in die Situation des Kranken kommen, dass uns alle Menschen verlassen, sollen wir am Glauben daran festhalten, dass der Gott und Mensch Jesus Christus uns nie verlassen wird, wenn wir Ihn nicht verlassen, wenn wir nicht vergessen, dass Er seit der Taufe in unserem Herzen wohnt. Dort erwartet Er, dass wir durch das Gebet eintreten. In einem Hymnus der Vesper dieses Sonntags sagt der Erlöser: „Für dich bin ich Mensch geworden; für dich habe ich den Leib angenommen, und du sagst: ich habe keinen Menschen! Steh auf, nimm dein Bett und geh umher!“ Und weiter: „Alles vermagst Du, Heiliger, alles gehorcht Dir, alles unterwirft sich Dir. Gedenke an uns und erbarme dich unser, Du menschenliebender Gott!“
Der dritte Aspekt sind die Worte des Herrn zu dem Geheilten: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre!“ Aus diesen Worten Christi können wir verstehen, dass Krankheit und Leiden im Allgemeinen eine Konsequenz der Sünde sind. Und doch gibt es auch Fälle wie den des von Geburt an Blinden. Von ihm sagt Jesus: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ (Joh. 9,3) Das Problem des Leidens, das universal ist und an dem so viele Menschen verzweifeln, kann nur vom Glauben her richtig verstanden werden. Gott hat weder das Böse, noch den Tod erschaffen, der der letzte Ausdruck des Bösen ist, sondern Er hat alles gut geschaffen. Das Böse und der Tod sind eine Konsequenz der Sünde der ersten Menschen und aller Menschen bis heute. Die Menschen kehren sich aufgrund der Freiheit, die ihnen Gott geschenkt hat, gegen Gott und gegen die Ordnungen, die Er der Welt gegeben hat. In Jesus Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, hat Gott das Böse in all seinen Formen durch den Tod in den Sieg verwandelt. Wer an Christus glaubt und sich bemüht, in Ihm zu leben und Seine Gebote zu erfüllen, der überwindet alles Böse, alles Unvermögen, alle Krankheit wie auch den Tod. Dem Glaubenden wird der Tod zu einem Ostern (Pascha), also zur Fülle des Lebens. In Jesus Christus verwandelt sich alles – alles wird zum Segen. Wir sollen uns nicht vor dem Leiden fürchten, sondern vor der Sünde, die zum Leiden führt. Und wenn wir gesündigt haben und wegen unserer Sünden leiden, dann sollen wir zu Christus eilen, von dem wir im Gebet Geduld im Tragen des Kreuzes und seelische und geistliche Heilung bekommen.
† Metropolit Serafim
Stuttgart, 6. Mai 2012
(Live ZDF)