Heiligkeit ist die Erfüllung des Menschseins (Selb, 01.11.2023)
Wort gehalten in der Kirche „Herz Jesu” in Selb, Zum Feiertag Allerheiligen, 1. November 2023
Die Kirche ist die „Gemeinschaft der Heiligen“: der Heiligen aus der „Ecclesia triumphans“, also der Kirche im Stande der Vollendung im Himmel, sowie der „Ecclesia militans“, also der streitenden Kirche auf Erden. Die Kirche macht einen großen Unterschied zwischen Anbetung und Verehrung. Nur dem in der Heiligen Dreifaltigkeit offenbarten und verehrten Gott gebührt Anbetung. Die Heiligen hingegen verehren wir, das heißt wir erinnern uns stets an ihr reines und gottgefälliges Leben und bemühen uns darum, ihrem Beispiel zu folgen. Und wir rufen sie um ihre Fürbitte und Hilfe an.
Das Wort „heilig“ taucht über 450 Mal in der Heiligen Schrift auf und bezieht sich dabei in erster Linie auf Gott selbst, den Absolut Heiligen und die Quelle aller Heiligkeit; zugleich aber auch auf Menschen, die Gott gehorchen und Seinen Willen erfüllen und tun. Dabei ist sein erklärter Wille gerade unsere „Heiligung“. So schreibt Paulus im Brief an die Thessalonicher: „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung!“ (1. Thessalonicher 4,3) Im Ersten Petrusbrief lesen wir: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.“ (1. Petrus 1,16), wie der Herr schon im Alten Testament von Seinem Volk Israel fodert.
Heilig zu sein ist für uns Menschen möglich, denn wir sind „nach dem Bild und Abbild“ Gottes geschaffen. Im Wesen des Menschen sind von der Schöpfung her alle Wesenszüge Gottes angelegt: die Liebe, die Heiligkeit, die Freiheit, die Weisheit und die Fähigkeit, Gutes zu vollbringen… Ein rumänischer Theologe und Philosoph, Nichifor Crainic, sagte, dass „Heiligkeit die Erfüllung des Menschseins“ sei und „das einzige Unglück darin besteht, nicht heilig zu sein“. „Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“, so schreibt der heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen (1,1). Der Mensch strebt von seinem Wesen her nach Höherem. Er strebt danach, Gott ähnlich zu werden, also nach Heiligkeit, und er vollendet sich selbst durch Heiligkeit!
In der hebräischen Sprache hat das Wort „heilig“ auch die Bedeutung von „abgesondert“ im Sinne von sakral, vor allem weil es um vollkommen Reinheit geht. So schreibt auch der heilige Apostel Paulus: „Darum geht weg von ihnen und sondert euch ab“, spricht der Herr; ‚und rührt nichts Unreines an, so will ich euch annehmen‘“ (2. Korinther 6,17). Die Christen haben sich von Anfang an als Heilige bezeichnet, weil sie sich abgesondert hatten von der Masse der Sünder, die Götzen und Idole anbeteten. Der heilige Apostel Paulus beschrieb in seinem Brief an die Philipper deren Gesinnung mit den Worten: „Ihr Gott ist der Bauch“ (Philipper 3,19).
Ohne die Welt und die Schöpfung abzulehnen und ohne die Sünder zu hassen, bemühen sich wahre Christen aufrichtig nach all ihren Kräften darum, nicht Böses zu begehen und ihr ganzes Leben zu heiligen, indem sie nach den Geboten Gottes leben, von denen das größte das Doppelgebot der Liebe ist: die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Nächsten. Der Erlöser sagt über Seine Jünger: „Ihr seid das Salz der Erde. (…) Ihr seid das Licht der Welt. (…) So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Matthäus, 5,13-16). Und wir sind als Christen die Jünger Christi, wenn wir Seine Gebote befolgen und dem Beispiel und Vorbild Seines Lebens folgen!
Der moderne Mensch ist meist kaum gläubig oder ungläubig und reagiert meist eher negativ, wenn er von den Geboten Gottes hört. Das Wort „Gebot“ oder „Gesetz“ selbst hat für ihn einen unangenehmen Klang. Der heutige Mensch will immer frei sein von jeder äußeren Pflicht: jedes Gebot scheint seine Freiheit einzuschränken. In Wahrheit aber sind wir nur in dem Maße frei, in dem wir die Sünde hinter uns lassen, die immer eine „Missetat“ bedeutet, also ein Übertreten des Gesetzes und der Gebote Gottes, wie es im 1. Brief des Johannes heißt: „Jeder, der die Sünde tut, handelt gesetzwidrig; denn Sünde ist Gesetzwidrigkeit“ (3,4). Jesus selbst sagt: „Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde“ (Johannes 8,34).
Wahre Freiheit gewinnt der Mensch nur durch Gehorsam gegenüber Gott und Unterordnung Ihm gegenüber. Gott hat Seiner Schöpfung Naturgesetze eingezeichnet, nach denen alles gelenkt wird; und Er hat dem Menschen Seine Gebote geschenkt, um ihn vor Sünde und Erniedrigung zu bewahren. Die Gestirne respektieren die in ihre Natur eingezeichneten Gesetze und daher herrscht auch im Kosmos Harmonie. (Das Wort Kosmos stammt aus dem Griechischen und hat auch die Bedeutung von Harmonie.) Der Psalmbeter sagt: „Er gab ihnen ein Gesetz, das sie nicht übertreten“ (Psalm 148, 6). Nur der mit Willensfreiheit erschaffene Mensch übertritt die Gesetze und Gebote Gottes, und infolgedessen herrschen in seiner Seele und in der Menschheit mehr Chaos, Verwirrung und Spaltung als Harmonie!
Die Sünde der ersten Menschen hatte kosmische Konsequenzen. Sie schädigte sein Wesen und das Wesen aller, die von ihnen abstammen. Von Adam und Eva erben wir alle die Neigung zum Ungehorsam und zum Stolz oder zur Autonomie und Unabhängigkeit von Gott. Wir wollen sein wie Gott – so wie es die Schlange den ersten Menschen verheißen hat; allerdings nicht im Gehorsam gegenüber Gott, sondern unabhängig von Ihm. Doch die Unabhängigkeit von Gott führt zur Abhängigkeit von der Schöpfung; das Herz des Menschen wird leidenschaftliche im Blicke für die materiellen Güter, die das Herz aber nicht befriedigen und erfüllen können, gerade weil es für Gott und für die Gemeinschaft mit Gott geschaffen wurde.
Der Heilige erkennt diese Versuchung des Teufels und kämpft darum, seinen Stolz und seinen Egoismus zu überwinden und sein Herz immer mehr für die Gemeinschaft mit Gott und mit seinen Nächsten zu öffnen. Die Kirchenväter sagen, dass der Mensch ein Mikrokosmos ist, also ein Kosmos im Kleinen, weil in seinem Herzen auf eine geheimnisvolle, ja mystische Weise wie in einem Fokus die gesamte Menschheit und die ganze Schöpfung vereint sind. Desgleichen konzentrieren sich alle physischen und psychischen Kräfte und Energien, die das Wesen des Menschen und des Universums durchdringen, im Herzen.
Gott selbst wohnt im Herzen des Menschen. Daher besteht alles Bemühen eines Heiligen darin, ein gutes Herz zu erlangen, das heißt „ein mitleidsvolles Herz, welches das Zeichen von Heiligkeit ist“, wie der heilige Isaak der Syrer sagt, der im 7. Jahrhundert gelebt hat. Hier ist die Rede von einem für die Präsenz Gottes sowie aller Menschen und der gesamten Schöpfung in ihm sensiblen und wahrnehmungsfähigen Herzen.
In diesem Sinne sagt der heilige Isaak der Syrer (7. Jh.), dass „das Zeichen der Heiligkeit ein mitleidsvolles Herz ist“, „das für die ganze Schöpfung brennt, für die Menschen, für die Vögel, für das Vieh, für die Feinde der Wahrheit und für jedes Geschöpf… Aus vielem und übergroßem Mitleid, das sein Herz beherrscht, und aus übergroßem Leid trauert sein Herz und kann es nicht mehr ertragen oder hören oder sehen, dass ein Geschöpf Schaden erleidet oder gequält wird… Aus diesem Grund betet ein solches mitleidsvolles Herz auch für das Vieh und für die Feinde der Wahrheit und für jene, die es immerzu ärgern, auch für die Kriechtiere betet es aus seinem großen unermeßlichen Güte heraus, die von Herzen kommt nach dem Urbild Gottes. Er betet darum, dass jedes Wesen bewahrt werde und Vergebung erfahre“ (Spruch 81). Und dies deshalb, weil ein mitleidsvolles Herz die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung wie Christus in sich trägt.
Ein solches mitleidsvolles Herz ist das Ergebnis des Wirkens der Gnade Gottes in der Seele des Gläubigen. Doch die Gnade wirkt nicht in uns ohne unsere eigene Anstrengung, den Egoismus in uns durch Gebet, durch Askese und gute Werke zu überwinden. Je mehr wir uns bemühen zu beten, sogar unablässig zu beten (zu Hause, in der Kirche, unterwegs, bei der Arbeit), wozu uns der heilige Apostel Paulus auffordert; je mehr wir uns bemühen, ein einfaches und maßvolles Leben zu führen; je mehr wir uns bemühen, unseren Nächsten Gutes zu tun, sogar denen, die uns hassen; – umso mehr nimmt das Wirken der Gnade in unserer Seele zu, was unser Herz allmählich immer mehr verwandelt, sensibilisiert und mit Liebe zu Gott, zu unseren Nächsten und zur ganzen Schöpfung erfüllt. So erneuert Gott in uns die innerste und ureigene Einheit mit der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung.
Die Heiligen, die uns die Kirche zur Verehrung und zur Anrufung um Hilfe und Fürbitte vor Augen stellt, waren keine « Supermenschen », sondern Menschen wie wir, mit vielen Fehlern, sogar Sünder. Entscheidend ist, dass sie sich von ihren Sünden nachhaltig bekehrt haben. Es waren Märtyrer, die um Christi und ihres Glaubens willen verfolgt oder getötet wurden; andere haben sich in die Einsamkeit oder in die Wüste zurückgezogen, allerdings nicht um vor den Menschen zu fliehen, sondern um für sie und für die ganze Welt zu beten. Heilige sind also Menschen, die ihren Egoismus oder die übermäßige Liebe zu sich selbst und jede Selbstsucht überwunden haben und sich auf ganz unterschiedliche Weise in den Dienst der Nächsten gestellt haben.
Heute verehrt die Kirche alle Heiligen, die bekannten und die unbekannten; und sie leitet uns an, dem Beispiel ihres Lebens zu folgen. Wenn wir die Heiligen verehren, die „Hausgenossen Gottes“ sind (Epheser 2,19), dann verehren wir Gott Selbst, der diese durch Seine Gnade geheiligt hat.
Ihm sei Ehre, Lobpreis und Anbetung in alle Ewigkeit. Amen.
Gelobt sei Jesus Christus!
Metropolit Serafim