Metropolit Serafim – Referat zum Bibeltext Genesis 50,15-21

Referat des Metropoliten Serafim, vorgetragen am Evangelischen Kirchentag in Nürnberg, Juni 2023: „Jetzt ist die Zeit”

 Liebe Brüder und Schwestern im Herrn, liebe Freunde,

Ich habe die Einladung der Organisatoren zum Evangelischen Kirchentag in Nürnberg, wo sich der Sitz unserer Rumänischen Orthodoxen Metropolie für Deutschland, Zentral- und Nordeuropa befindet, um hier ein Bibel-Referat zu halten, mit etwas Zurückhaltung angenommen, weil ich kein Spezialist in den Bibelwissenschaften bin. Gott der Herr hat es gefügt, dass ich in meiner theologischen Bildung und Entwicklung ein Thema der Spiritualität vertieft habe, das spezifisch ist für die Orthodoxe Kirche, das aber auch der christlichen Spiritualität im Allgemeinen nicht fremd ist, und zwar die Tradition des Hesychasmus. Dies ist jene spirituelle Tradition, die den Akzent auf die Verinnerlichung des Menschen durch eine vertiefte Praxis des Gebets und der Askese legt, um dadurch zum Frieden des Herzens zu  gelangen, von dem der heilige Apostel Paulus sagt, dass er höher ist als alle Vernunft, weil er eine Frucht der Gnade ist (vgl. Philipper 4,7). In der Tat ist nichts wertvoller im Leben als den Frieden Gottes im Herzen zu tragen und zu spüren. Es gibt keinen Menschen, der nicht nach dem inneren Frieden strebt. Geschaffen hast Du uns auf Dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir, so hat der Heilige Augustinus ausgerufen. Das Herz des Menschen kann nur in Gott Frieden finden und zur Ruhe kommen, der auf geheimnisvolle Weise in ihm wohnt. Daher muss all unser Bemühen auf unser Herz ausgerichtet sein. Jemand hat dies einmal auf poetische Weise so ausgedrückt: das gesamte geistliche Leben des Christen ist eine Reise vom Verstand ins Herz, ein Bemühen darum, dass wir dahin gelangen, mit dem Herzen zu denken, mit dem Herzen zu sprechen und alles mit dem Herzen zu tun.

Warum ist das Herz so wichtig in unserem Leben? Weil das Herz Zentrum und Mitte des menschlichen Wesens ist, in dem sich wie in einem Fokus alle seine physischen und psychischen Kräfte sammeln und konzentrieren, also alle Energien, die es durchströmen. Die Materie ist nichts anderes als eine plastisch greifbar gewordene oder verdickte Energie, wie der große rumänische Theologe Dumitru Stăniloae (1903-1993) festgehalten hat. Am Anfang erschuf Gott das Licht: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.” (Genesis 1,3) In ihrem Innersten ist die gesamte Schöpfung, einschließlich des Menschen, eine lichterfüllte Energie. Erschaffen „nach dem Bild und Ebenbild Gottes” rekapituliert der Mensch in seinem Herzen die gesamte Schöpfung. Das gesamte Universum konzentriert sich im Herzen eines jeden Menschen. Daher sagen auch die Kirchenväter, dass der Mensch ein Mikrokosmos oder sogar ein Makrokosmos ist. Nicht wir leben im Kosmos, sondern der Kosmos lebt in uns! Der Kosmos wird durchdrungen von unzähligen Energien; er ist ein Magnetfeld, das alles zusammenhält durch die Kraft und das Wirken der Gnade Gottes, Der „alles in allem” ist (1. Korinther 15,28). Und all diese Energien reklapitulieren sich in jedem Menschen. Auch was wir „Verstand” nennen, ist nichts anderes als eine Energie des Herzens. Der Verstand geht vom Herzen aus und drückt sich über das Gehirn in Gefühlen, Worten und Taten aus. Was für ein großes Geheimnis sind doch der Mensch und der Kosmos, ein Geheimnis, in das wir nur durch den Glauben eintauchen können! Im Hebräerbrief lesen wir dazu: „Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort geschaffen ist, so dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist.” (Hebräer 11,3) Ohne Glauben sind wir blind! Ohne Glauben ist alles undurchsichtig, ist alles ohne Sinn, also buchstäblich sinnlos. Der ewige Sinn und die Bestimmung des Menschen und des Universums wurde uns von Jesus Christus offenbart, dem zur Erlösung der Welt Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes. Die Auferstehung Christi ist der Sinn und die Bestimmung des Menschen und der gesamten Schöpfung. Der heilige Apostel Paulus schreibt: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.” (1. Korinther 15,19)

Im Blick auf das allgemeine Thema dieses „Evangelischen Kirchentags” in diesem Jahr: „Jetzt ist die Zeit” (vgl. Markus 1,15), möchte ich an dieser Stelle unterstreichen, dass hier der Begriff der Zeit vom griechischen Kairos kommt, nicht von der weltlichen Zeit und Zeitabfolge, die im Griechischen mit Chronos wiedergegeben wird. Kairos hat hier den Sinn des passenden (zeitlichen) Moments oder eines herausgehobenen Moments für Veränderungen. Kairos ist der Moment, in dem Gott ins Leben von Menschen eingreift, wenn der Mensch auf Seinen Ruf hört und zu Ihm umkehrt und dabei fest entschlossen ist, Ihm nachzufolgen und mit Ihm zusammenzuwirken.

Der heilige Johannes der Täufer begann seine Verkündigung am Jordan, indem er die Menschen zur Buße rief: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen” (Matthäus 3,2). Genauso begann auch unser Heiland Jesus Christus Sein messianisches Wirken mit dem Ruf an die Menschen zu Buße und Umkehr: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!” (Markus 1,15). Für Gott bedeutet Zeit ewige Gegenwart. Im Hebräerbrief heißt es: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit” (Hebräer 13,8). Und in dieser ewigen Gegenwart des Herrn erklingt immerzu Sein Ruf zur Buße, Umkehr und Nachfolge. Im Lukas-Evangelium sagt Christus: „Wer Mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge Mir nach” (Lukas 9,23). Und in der Offenbarung des Johannes heißt es: „Siehe, Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand Meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde Ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit Mir” (Offenbarung 3,20).

Die Buße, also die Umkehr zu Gott oder die Versöhnung mit Gott, bedeutet nicht nur einen Moment im Leben des Menschen, sondern einen fortlaufenden Prozess, der das ganze Leben lang andauert. Tag für Tag und Stunde um Stunde sind wir unser ganzes Leben lang gerufen, aus unseren großen und kleinen Abstürzen, die uns von Gott trennen, uns wieder aufzurichten und zu Ihm umzukehren. Das Wesen des Menschen ist fragil und wechselhaft; wir können jederzeit fallen, aber wir können uns auch immer wieder aufrichten, wenn wir Gott zu Hilfe rufen. Der weise Salomon sagt: „Ein Gerechter fällt siebenmal und steht wieder auf, aber die Gottlosen versinken im Unglück” (Sprüche Salomonis 24,16). Dabei gilt auch, dass alles immer ein Zusammenwirken mit Gott darstellt, wie schon der heilige Apostel Paulus schreibt: „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter” (1. Korinther 3,9). Der Mensch kann nichts tun oder bewirken ohne Gott. Christus sagt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun!”   (Johannes 15,5); aber auch Gott kann den Menschen nicht ohne seine Zustimmung oder gegen seinen Willen erlösen.

Ich möchte an dieser Stelle zwei scheinbar sich widersprechende Worte der Väter aus der alten Tradition der Kirche erwähnen. So heißt es einerseits: „Alles ist Gnade!” Anderseits aber: „Gib dein Blut, um die Gnade zu empfangen!”. Von der Gnade lehrt die Kirche, dass sie die geheimnisvolle (mystische) Gegenwart und das Wirken Gottes im Leben des Menschen und der Schöpfung ist, ohne dass Gott mit dem Menschen oder mit der Schöpfung zu verwechseln ist. Gott ist und wirkt gleichzeitig in der Schöpfung und steht doch darüber. Durch Seine ungeschaffenen Energien, die aus Seinem Sein ausstrahlen, ist Gott in der Schöpfung omnipräsent und strahlt auf alle Geschöpfe aus, bleibt aber Seinem Wesen nach über der Schöpfung. Auch die Sonne durchdringt mit ihren Strahlen die Erde, bleibt und steht aber ihrem Wesen nach über der Erde. Bei Jesaja lesen wir: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind Seiner Ehre voll!” (Jesaja 6,6)

In theologischer Begrifflichkeit wird die ständige Fürsorge Gottes für Seine Schöpfung Vorsehung genannt. Christus fragt in der Bergpredigt: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?” (Matthäus 6,26). Und im Lukas-Evangelium: „Auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt” (Lukas 12,7). Gott wirkt alles im Leben des Menschen und erwartet im Gegenzug nur die Anerkennung und Erfüllung Seiner Gebote. „Liebt ihr Mich, so werdet ihr Meine Gebote halten” (Johannes 14,15). Trotzdem übertreten die Menschen beginnend mit Adam unablässig die Gebote Gottes und leiden aus diesem Grund. Die Sünde bedeutet gerade das Übertreten der Gesetze Gottes, die in die Natur des Menschen eingeschrieben sind, sowie Seiner Gebote, die Er gegeben hat, um den Menschen vor seinem Niedergang zu bewahren und die innere Harmonie seines Lebens zu fördern. Eine wiederholte Sünde wird zur Leidenschaft und führt zur Versklavung oder zur Knechtschaft, was den ganzen Menschen quält. Gegen die Sünde müssen wir bis aufs Blut kämpfen, wie es auch der Verfasser des Hebräerbriefs fordert: „Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde” (Hebräer 12,4). Der Kampf gegen die Sünde ist ein geistlicher Kampf unser ganzes Leben lang. Denn wir bleiben nicht ein Leben lang vor Versuchungen und dem Fall in die Sünde bewahrt. Dieser Kampf besteht vor allem aus Gebet und Askese. Askese meint hier Selbstzügelung bei allem, was uns zur Sünde hinzieht. Selbstverständlich führen wir diesen Kampf mit ständiger Hilfe der Gnade, die mit uns zusammenwirkt im Maße unseres eigenen Einsatzes im Kampf gegen die Sünde und die Leidenschaft, die uns beherrschen. Darauf bezieht sich auch dieser schon zitierte Satz: Gib dein Blut, damit du die Gnade empfängst!

Diese paradoxe Wirklichkeit der Gnade, die uns zugleich geschenkt ist und trotzdem unseren Kampf bis aufs Blut voraussetzt, um sie zu empfangen, wird von allen bekräftigt, die wirklich in Christus leben. Weil wir hier auf dem Evangelischen Kirchentag sind, möchte ich hier den großen evangelischen Theologen und Märtyrer Dietrich Bonhoeffer zitieren, der sagte:

 „Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament. (…)

Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; (…) Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, (…) Liebe Gottes als christliche Gottesidee. Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden. Die Kirche dieser Gnadenlehre ist durch sie schon der Gnade teilhaftig. In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. Billige Gnade ist darum Leugnung des lebendigen Wortes Gottes, Leugnung der Menschwerdung des Wortes Gottes. (…)

Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus. (...)

Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muß.

 Teuer ist sie, (…) weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; (…) weil sie dem Menschen das Leben kostet, (…) ihm so das Leben erst schenkt, (…) sie die Sünde verdammt, (…) den Sünder rechtfertigt.

Teuer ist die Gnade vor allem darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, (…) sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat – „ihr seid teuer erkauft“ -, und weil uns nicht billig sein kann, was Gott teuer ist. (…) weil Gott sein Sohn nicht zu teuer war für unser Leben, sondern ihn für uns hingab. Teure Gnade ist Menschwerdung Gottes.

Teure Gnade ist Gnade als das Heiligtum Gottes, das vor der Welt behütet werden muß, (…) nicht vor die Hunde geworfen werden darf, sie ist darum Gnade als lebendiges Wort, Wort Gottes, das er selbst spricht, wie es ihm gefällt. Es trifft uns als gnädiger Ruf in die Nachfolge Jesu, es kommt als vergebendes Wort zu dem geängstigten Geist und dem zerschlagenen Herzen. Teuer ist die Gnade, weil sie den Menschen unter das Joch der Nachfolge Jesu Christi zwingt, Gnade ist es, daß Jesus sagt: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“[1]

Aus der Perspektive dieser grundlegenden Wahrheiten der christlichen Spiritualität werfen wir nun einen Blick auf den Bibeltext Genesis 50, 15-21 und wollen sehen, was wir von dieser Geschichte des Josef lernen können:

 15Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 16Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. 18Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

 Die Geschichte des Josef , in dem die Kirchenväter einen Vorläufer Christi sehen, stellt den Übergang von der Epoche der Patriarchen zur Versklavung des jüdischen Volkes in Ägypten dar und zählt zu den bewegendsten Abschnitten des Alten Testaments. Josef, der Sohn des Jakob und der Rachel, hatte einen eigenen Bruder, Benjamin, und elf weitere Stiefbrüder. Nachdem er gehorsam und fleißig war, wurde er von seinem Vater mehr geliebt als die anderen Brüder, was in deren Seelen Neid und Hass hervorrief. Nachdem Josef seinen Brüdern von zwei Träumen berichtet hat, die als prophetisch erschienen, entwickelten diese den Plan, ihn zu ermorden. Dabei handelte es sich um diese beiden Träume: „Siehe, wir banden Garben auf dem Felde, und meine Garbe richtete sich auf und stand; aber eure Garben stellten sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe (…). Und er hatte noch einen zweiten Traum, den erzählte er seinen Brüdern und sprach: Ich habe noch einen Traum gehabt; siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir.” (Genesis 37,7.10)   Von seinen Brüdern an fremde Händler für 20 Silberstücke verkauft, kommt Josef nach Ägypten und wird Sklave bei Potifar, dem Kämmerer und Obersten der Leibwache des Pharao. Und weil Gott mit ihm war und ihm alles glückte, segnete Er das Haus des Potifar, so dass Potifar „ihn über sein Haus setzte und alles, was er hatte, unter seine Hände gab” (Genesis 39,4). Weil er jedoch den Nachstellungen der Ehefrau des Potifar, die mit ihm Ehebruch begehen wollte, nicht nachgab, kam Josef ins Gefängnis. Hier wiederum gelangte er vor den Amtmann, der dem Gefängnis vorstand, und fand bei diesem Gnade. Er „gab alle Gefangenen im Gefängnis unter seinen Hand und alles, was dort geschah” (Genesis 37, 21f.). Von Gott mit der Gabe beschenkt, Träume zu deuten, konnte Josef die Bedeutung der Träume von zwei Dienern aus dem Umfeld des Königs entschlüsseln, die ebenfalls inhaftiert waren, später dann zwei Träume des Pharao selbst. Dies waren die bekannten Träume von den sieben schönen und fetten Kühen und den sieben häßlichen und magerern Kühen, sowie von den sieben vollen und dicken Ähren und den sieben mageren, versengten und dürren Ähren. Dies bedeutete sieben reiche und sieben dürre Jahre für Ägypten. Dafür holte ihn der Pharao aus dem Gefängnis; und weil er verstanden hatte, dass kein Mann in Ägypten „so verständig und weise” war wie Josef (Genesis 41,39), setzte er ihn zum Gouverneur über das ganze Land Ägypten ein. Er vertraute ihm die ganze Verwaltung der Ernten in den sieben reichen Jahren und die Verteilung der Vorräte in den sieben dürren Jahren an. Die Dürre erstreckte sich auch auf Kanaan, den Landstrich, den Jakob und seine Familie bewohnten. Als er hörte, dass es in Ägypten noch Getreide gab, sandte er seine Söhne dorthin, um das zum Überleben notwendige Getreide zu kaufen. Josef erkannte seine Brüder sofort, gab sich aber erst bei deren zweiten Besuch zu erkennen, als diese auch seinen kleinen Bruder Benjamin mitbrachten. Von Tränen überwältigt, offenbarte sich Josef seinen Brüdern: „Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt” (Genesis 45,4-5). Auf den Ruf des Josef hin zog die ganze Sippe des Jakob nach Ägypten – 75 Seelen – und ließ sich im Landstrich Goschen nieder, wo es den besten Ackerboden in Ägypten gab. In Ägypten haben sich die Hebräer aber so zahlreich vermehrt, dass die Ägypter in ihnen eine Gefahr für ihr Land sahen. Daher versuchten sie, sie auszulöschen, indem sie sie harter Zwangsarbeit aussetzten und ihre männlichen Neugeborenen töteten. Nach 430 Jahren der Knechtschaft wird das hebräische Volk von Mose befreit, der das Volk auf wundersame Weise durch das Rote Meer führte und nach Kanaan brachte, in das Land der Verheißung.   Was können wir  vom Leben des Josef lernen, der wie gesagt ein Vorläufer Christi ist? In erster Linie einen lebendigen Glauben an Gott und die göttliche Vorsehung, die sein Leben aus den Händen seiner Brüder errettet hat und ihn nach Ägypten geführt hat, um durch ihn das Leben seines Vaters und seiner Brüder zu retten. Derselbe Glaube und die Furcht vor der Sünde hat ihn auch gestärkt in der Versuchung, die seitens der Frau des Potifar über ihn gekommen war, als diese mit ihm Ehebruch begehen wollte. Ohne Zweifel war sich Josef dessen bewusst, dass die Fähigkeit, Träume zu deuten, eine Gabe Gottes war und Gott selbst ihn über das Volk der Ägypter gesetzt hatte. Auch war es sein Glaube, der ihn dazu gebracht hat, seinen Brüdern verzeihen zu können und nicht Böses mit Bösem zu vergelten. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk” (Genesis 50,20). Josef wußte schon, was der Herr durch den Mund des Mose kundtun würde: „Die Rache ist Mein, Ich will vergelten” (Deuteronomium 32,35). Wir können sagen, dass Josef glaubte, dass alles in seinem Leben ein Wirken Gottes war! Oder, wie wir oben gesagt haben: dass „alles Gnade ist”.  Aus der Erfahrung von Jahrhunderten und Jahrtausenden wissen wir, dass die Gnade des Glaubens verbunden ist mit Leidenserfahrungen. Ein Leid aber, das im Glauben angenommen und im Gebet vor Gott gebracht wird, wirkt nicht zerstörerisch und sinnlos, wie es das Leid jener Menschen ist, die keinen Glauben haben und in ihrem Leben Gott nicht am Werk sehen. Ein im Glauben angenommenes Leiden wird verwandelt und durchdrungen von Hoffnung und Mut. Gott der Herr lässt es zu, dass der gläubige und aufrechte Mensch größeres Leid erlebt als der ungläubige und sündhafte Mensch, denn im Leid erlebt der gläubige Mensch sein ontologisches Unvermögen und nähert sich Gott noch mehr an. So ist das Leiden für den gläubigen Menschen nicht zerstörerisch, sondern erlösend und heiligend! Josef hatte als gerechter und guter Mensch mehr zu erleiden als seine Brüder; doch das Leid hat ihn nicht böse gemacht, wie es häufig geschieht, sondern sanftmütig und versöhnlich. Gerade deshalb hatte Josef die Kraft, seinen Brüdern zu vergeben.  Für uns Christen gehört die Vergebung zum Wesen unseres Glaubens, der die bedingungslose Liebe selbst ist. Du kannst kein Christ sein, wenn du denen nicht vergibst, die sich an dir versündigt haben, einschließlich deiner Feinde, wie der Herr selbst uns lehrt: „Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel” (Matthäus 5,44). Die Feindesliebe bedeutet mehr, als anderen einfach zu vergeben. Denn Vergebung kann sich darauf beschränken, Böses nur zu vergessen. Die Feindesliebe aber bedeutet, auf Böses mit Gutem zu antworten und für die Feinde zu beten. Lassen Sie mich dazu einen Heiligen des 20. Jahrhunderts zitieren: Siluan vom Berg Athos, der 1938 verstorben ist. Er sagt: „Die Seele kann keinen Frieden haben, wenn sie nicht für die Feinde betet. Der Herr hat mich gelehrt, die Feinde zu lieben. Ohne die Gnade Gottes können wir die Feinde nicht lieben, doch der Heilige Geist lehrt uns die Liebe; und dann empfinden wir selbst Mitleid mit den Dämonen, weil sie sich vom Guten abgewendet und die Demut und Liebe gegenüber Gott verloren haben.Ich bitte euch, Brüder, versucht es. Wenn euch jemand verleumdet oder beleidigt oder euch um etwas bringt, was euch gehört, oder auch die Kirche verfolgt, dann betet zum Herrn mit den Worten: „Herr, wir alle sind Deine Geschöpfe. Hab Erbarmen mit Deinen Knechten und bringe sie zur Buße!” Dann wirst du das Wirken der Gnade in deiner Seele spüren. Am Anfang musst du dein Herz zwingen, die Feinde zu lieben; aber der Herr wird dir in allem helfen, wenn er deinen guten Willen erkennt, und diese Erfahrung selbst wird dir eine Lehre sein.Wer aber böse über seine Feinde denkt, der hat die Liebe Gottes nicht in sich und kennt Gott nicht.”      

Josef ist ein Beispiel für die Vergebung gegenüber Feinden, die ihn bis auf den Tod gehasst haben. Und seine Vergebung gegenüber seinen Brüdern hat das ganze Volk Israel gerettet, wie er selbst sagt! Die Kraft zur Vergebung rettet das Leben des Menschen, des Volkes, ja der ganzen Menschheit!

So wie Gott der Herr Seinen eigenen Plan mit Josef hatte, so hat Er einen verborgenen Plan mit jedem Menschen, den Er im Zusammenwirken mit dem Menschen zur Vollendung bringt, wie wir schon gesagt haben. Im Plan Gottes ist kein einziger Mensch weniger wert als ein anderer. Jeder hat einen eigenen Auftrag in dieser Welt zu erfüllen, ganz entsprechend den Talenten, die er bekommen hat.

Dies verstehen wir Christen am besten, die wir daran glauben, dass Christus in Seinem menschlichen Wesen, also in Seinem Leib, die gesamte Menschheit erneuert hat. Daher kann auch der heilige Apostel Paulus schreiben, dass die Kirche „der Leib Christi” ist (Kolosser 1,18) und dass die Menschen die Glieder dieses mystischen Leibes sind, jeder mit seiner ureigenen Aufgabe betraut. Damit der Leib gesund ist, müssen die Glieder ihre Aufgabe erfüllen, die ihnen mit der Schöpfung zugeteilt wurde. Wenn ein Glied seine Aufgabe nicht erfüllt, dann erkrankt es und mit ihm wird der ganze Leib leiden. Es besteht also eine organische Interaktion zwischen den Gliedern dieses gewaltigen Organismus der Kirche und der Menschheit. Wenn der Organismus der Kirche und der Menschheit leidet, dann liegt dies darin begründet, dass die Menschen ihre Rolle oder Aufgabe nicht erfüllen, für die sie erschaffen wurden. Die Sünde bedeutet gerade das Verfehlen des Ziels, also der Aufgabe, die jeder von uns im lebendigen Organismus der Kirche und der Gesellschaft hat, und das Verfolgen falscher Ziele. Wir sündigen dadurch, dass wir häufig das Ziel verfehlen, das dem Plan Gottes mit uns entspricht, und nach falschen Zielen streben. Den Plan Gottes für uns aber erkennen wir, wenn wir in den lebendigen Organismus der Kirche eingegliedert sind, wenn wir am Leben der Kirchengemeinde teilnehmen, zu der wir gehören, und stets auf die seelsorgerlichen Weisungen eines geistlichen Vaters hören. Denn das christliche Leben ist ein gemeinschaftliches Leben, kein Leben in Isolation und Vereinzelung. Der Mensch selbst ist von Natur aus ein soziales Wesen und findet seine Erfüllung nur in der Gemeinschaft mit seinen Nächsten in der Menschheit. Ein patristisches Motto lautet: „Niemand kann sich alleine erlösen, sondern nur gemeinsam mit seinen Brüdern!” Und Dostojewski sagt: „Alle sind für alle verantwortlich!” Wie Christus nimmt auch der gläubige Mensch mit Freuden die Sünden seiner Nächsten auf sich, so wie gesunde Organe die Funktion der kranken übernehmen!

Christus sagt: „Die Zeit ist erfüllt (…). Tut Buße und glaubt an das Evangelium” (Markus 1,15) Die Essenz des Evangeliums ist die Vergebung der Sünden und die Versöhnung Gottes mit den Menschen durch den Tod und die Auferstehung Seines menschgewordenen Sohnes Jesus Christus. „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkei.” (1. Johannes 1,8-9). Ohne Sündenbewusstsein und das Wissen um die Notwendigkeit, unsere Sünden zu bekennen, um Vergebung zu erlangen, ist es unmöglich, im geistlichen Leben voranzuschreiten. Und die grundlegende Sünde ist die Entfremdung von Gott und der  Unglaube, woraus alle anderen Sünden erwachsen. Gewiss ist der Glaube auch eine Gnade, die wir empfangen, wenn wir darum bitten. Schon die Apostel haben gebetet: „Herr, stärke uns den Glauben!” (Lukas 17,5)

 Die Versöhnung mit Gott korreliert mit der Versöhnung mit den Nächsten und der Versöhnung mit sich selbst. Und das Zeichen für die Vergebung der Sünden ist gerade der Frieden im Herzen bzw. der innere Seelenfrieden, in dem Gott und mit Ihm die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung präsent sind. Die asketischen Väter sprechen hier von der „Wahrnehmung des Herzens”. Damit ist das Verspüren der Wärme der Gnade im Herzen gemeint, die ein für das Leid der Nächsten unsensibles Herz in ein „mitleidsvolles Herz” oder „barmherziges Herz” verwandelt, das voller Aufmerksamkeit ist für die ganze Schöpfung.

 „Was ist ein mitleidsvolles Herz?”, fragt der heilige Isaak der Syrer. Und er gibt zur Antwort: „Es ist ein Herz, das vor Liebe zur ganzen Schöpfung, zu allen Menschen, Vögeln und Lebewesen und zu allen Geschöpfen brennt. Wer ein solches Herz hat, der kann kein Lebewesen mehr sehen oder sich daran erinnern, ohne dass seine Augen voller Tränen sind wegen des unendlichen Mitleids, das sein Herz beherrscht, ein Herz, das erweicht worden ist und das es nicht mehr erträgt, das Leid anderer zu sehen oder davon zu hören, auch nicht den kleinsten Schmerz, der irgendeiner Kreatur zugefügt worden ist. Daher hört ein solcher Mensch auch nie auf, für alle Lebewesen zu beten, selbst für die Feinde der Wahrheit und für die, die ihm Böses tun, damit diese bewahrt und geläutert werden. Ein solcher Mensch wird sogar für Reptilien beten, bewegt von maßlosem Mitleid, das in dem Herzen jener herrscht, die eins geworden sind mit dem Herrn.” (Isaak der Syrer, Wort 81; Philokalia X)

 Beten wir zum Herrn, dass Er uns ein solches Herz geben möge.

 † Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa

Nürnberg – Evangelischer Kirchentag, Lorenzkirche, 9. Juni 2023  

 Übesetzung aus dem Rumänichen ins Deutsche von Pfarrer Dr. Jurgen Henkel, Selb

 [1] Quelle: Nachfolge, DBW 4, S. 29 – 31; https://hapax.at/index.php/leben-und-worte-bonhoeffers/ausgewaehlte-texte/216-billige-gnade-teure-gnade.