Spiritualität des Glaubens – Impulse für ein ökumenisches Miteinander (Nürnberg, 1.02.2009)

Vortrag gehalten zum 100 Jahren-Jubiläum der Evangelischen Allianz, Nürnberg, 1. Februar 2009

Meine lieben Brüder und Schwestern in Christus,

lassen Sie mich zunächst Herrn Detlev Reinke, dem Vorsitzenden der Evangelischen Union Nürnberg, für die Einladung danken, zu Ihrem 100 jährigen Jubiläum die Predigt des Tages zu halten. Diese Einladung ist für mich eine Ehre, aber auch eine Herausforderung. Eine Ehre, weil ich an einem Ereignis teilnehmen darf, bei dem Sie eine orthodoxe Stimme hören wollen, andererseits aber auch eine Herausforderung, weil diese Stimme einiges sagen wird, was für die Herzen vieler Menschen hier ungewöhnlich klingt. So bitte ich unseren gemeinsamen Herrn Jesus Christus, mir Sein Wort zu schenken, welches „eine Lehre mit Vollmacht“ ist (Mt 7, 29), damit ich den Menschen nicht nach dem Munde rede, sondern das offen anspreche, was für uns alle zur Erlösung notwendig ist.

Die biblischen Texte, die wir gehört haben, sind die Texte, die für diesen Sonntag vorgesehen sind: das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 17, 1-9, und der 2. Brief des Paulus an die Korinther 4,6-10. Diese stehen in einer engen Verbindung, sie stellen eine profunde innere Einheit dar. Auf dem Berg Tabor zeigte Christus, der „der Abglanz und das Ebenbild des Wesens des Vaters ist“ (Hebr 1, 3), vor Petrus, Jakobus und Johannes für einen Moment Seine Herrlichkeit: „und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht“ (Mt 17, 2). Der heilige Apostel und Evangelist Johannes wiederholt immer wieder, daß „Gott das Licht ist“ und wer in Gott lebt, im Lichte lebt. Auch der Mensch ist seinem Wesen nach Licht, ist er auch selbst „Gottes Bild und Abglanz“ (1. Kor. 11, 7). Und Gott erleuchtet uns in unseren Herzen wie jene drei Apostel, damit wir die Herrlichkeit der Gottheit auf dem Antlitz Christi erkennen. Eine Herrlichkeit freilich, die sich selbst hinter dem „Schmerzensmann“ (Jes 53) verbirgt, hinter dem Gottesknecht, der „gehorsam ward bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2, 8). So wie Christus erleiden auch wir als Seine Jünger in dieser Welt vieles, aber wir werden davon nicht erschlagen, uns fehlt manches, doch sind wir nicht hoffnungslos, wir sind gefangen, aber nicht verlassen, gedrückt, aber nicht ausgelöscht. Wir tragen das Sterben Christi in unserem Leib, damit auch Sein Leben in unserem Leib sichtbar wird (vgl. 2. Kor. 4, 8-10).

Dies ist die Botschaft der beiden biblischen Texte von heute: wir sollen nicht darüber irre werden, daß sich Gott auch heute wie immer schon von den Menschen dieser Welt ärgern, beleidigen und töten läßt; wir sollen nicht hoffnungslos werden angesichts aller Leidenserfahrungen und Versuchungen, die wir erleben, nicht einmal angesichts des Todes, denn in all dem verbirgt sich die Herrlichkeit und Kraft Christi, der den Tod gerade dadurch überwunden hat, daß er all dies freiwillig auf sich genommen hat. „Christus ist auferstanden von den Toten, er hat den Tod mit dem Tod besiegt und denen in den Gräbern das Leben gebracht“ – so singen wir Orthodoxen in der Osternacht und in der Zeit bis Christi Himmelfahrt immer wieder in unseren Gottesdiensten. Und die Auferstehung Christi ist auch unsere Auferstehung, der Sieg Christi ist auch unser Sieg.

Diese mystischen Wahrheiten und Wirklichkeiten riskieren wie die ganze göttliche Offenbarung in der Heiligen Schrift „tote Buchstaben“ zu bleiben, wenn sie nicht von einem lebendigen und im Leben erprobten und bewährten Glauben angenommen werden. Deshalb auch das vorgeschlagene Thema:

Spiritualität des Glaubens – Impulse für ein ökumenisches Miteinander“.

Liebe Schwestern und Brüder,

die Wahrheiten des Glaubens, nach denen wir unser Leben führen, sind oft widersprüchlich, paradox und hinterlassen den Eindruck, sich zu widersprechen. Sie entsprechen nicht der Logik, sondern sie offenbaren sich auf eine geheimnisvolle und fast mysteriöse Weise dem Herzen. Gerade deshalb können sie nur im Glauben angenommen werden. Und Glauben heißt, „den Verstand zu kreuzigen“ im Blick auf eine rein rationale Art zu denken und zu urteilen, und dieses Geheimnis anzunehmen, das nicht von rationaler, sondern von kontemplativer Ordnung ist.

In meiner Ansprache werden Sie immer wieder auf solche Widersprüche und Aussagen treffen, die sich auf den ersten Blick widersprechen, die jedoch grundlegende Wahrheiten des christlichen Glaubens zum Ausdruck bringen.

Der Titel „Spiritualität des Glaubens“ unterstreicht schon, daß der christliche Glaube nicht nur eine abstrakte und rein intellektuelle Annäherung an einen Glauben ist, den wir nur theoretisch bezeugen, sondern er setzt eine ganz eigene Art zu sein und zu leben voraus. Der Glaube schafft also eine Spiritualität als Lebenshaltung aus dem Glauben, ein Ethos, das genau diese dem Evangelium gemäße Art zu sein und zu leben widerspiegelt.

Jede Glaubensüberzeugung, sei sie religiös, sei sie agnostisch, sei sie politisch… führt normalerweise zu einem bestimmten Ethos, das heißt zu einer ganz bestimmten Art, die Prinzipien, die man bekennt, auch zu leben. Wenn das Leben nicht mit dem bezeugten Glauben übereinstimmt, dann bedeutet das, daß ein Mensch im Zustand der Schizophrenie lebt. Es ist schon richtig, daß der christliche Glaube nicht auf die Normen und Lebensregeln reduziert werden darf, die wir in der Heiligen Schrift finden, also auf die Gebote Gottes oder die Impulse und Lebensregeln aus dem Evangelium. Das Christentum ist keine Sammlung von Vorschriften und Moralgesetzen. Es ist nicht einmal eine Religion, sondern mehr noch „die Krisis für alle Religionen“ (Olivier Clément). Das Christentum ist das Leben selbst, das neue Leben in Christus und im Heiligen Geist“. Der Christ, der in Christus lebt, ist nicht mehr irgendwelchen Regeln, Gesetzen oder Geboten untertan; er erfreut sich „der Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21). In Christus, in dem wir getauft sind und den wir angezogen haben, „ist auch nicht mehr Jude oder Grieche, Knecht oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau…“ (Gal 3,28).

So ist die Spiritualität des Glaubens in erster Linie eine Tauf- und Christus-Spiritualität. Dieses neue Leben, von dem wir sprechen, hat seinen Ursprung in unserer Taufe. Die Taufe ist unsere „Wiedergeburt aus Wasser und Geist“ (vgl. Joh 3,4-5), sie ist unser „Sterben und Auferstehen mit Christus“ (vgl. Röm 6,2-4). In der Taufe haben wir dem Satan entsagt und uns mit Christus vereint. Und wo Christus ist, da sind auch der Vater und der Heilige Geist. Die Taufe hat in uns die Einheit mit Gott erneuert, die wir durch die Erbsünde verloren haben, wie auch die Einheit mit unseren Nächsten in der Menschheit und der ganzen Schöpfung. Die menschliche Person, die durch die Taufe in Christus erneuert wurde, ist wieder wie Adam vor dem Fall zu einem Mikrokosmos geworden, einem Universum, das im Herzen seine Konzentration hat. Dies ist die tiefste Wirklichkeit des Menschseins, die authentische Identität des Christen, die ihm die Taufe anbietet und derer sich jeder Christ zu jedem Zeitpunkt bewußt sein muß. Als Christen sind wir nicht mehr isolierte, getrennte oder mit Gott, den Nächsten und der Schöpfung in Feindschaft befindliche Individuen, wir sind auch keine egoistischen Individuen mehr, die nur ihr eigenes Interesse verfolgen, sondern wir sind Personen in Gemeinschaft mit allem was existiert, nach dem Bild der Personen der Heiligen Trinität – als höchstes Modell der Gemeinschaft und der Liebe.

Die Spiritualität des Glaubens ist in gleichem Maße aber auch eine Spiritualität des Heiligen Geistes oder im Heiligen Geist. Der Terminus der Spiritualität weist uns per se auf den Heiligen Geist, der der Lebensschaffende und Lebenserhaltende ist. Das Gebet zur Herabrufung des Heiligen Geistes am Beginn jedes liturgischen Dienstes in unserer orthodoxen Tradition lautet so: „Himmlischer König, Tröster, Geist der Wahrheit, Allgegenwärtiger und Alleserfüllender, Hort aller Güter und Lebensspender, komm und wohne in uns, reinige uns von allem Makel und rette, Gütiger, unsere Seelen!“ Wenn das Christentum, wie wir gesagt haben, „das neue Leben in Christus“ ist, dann müssen wir festhalten und anerkennen, daß nicht wir uns selbst das Leben geben können und nicht wir selbst unser Leben verändern können, sondern nur der Heilige Geist, „der Lebensspender“ und Der, Der alles neu macht (vgl. Apk 21,5). Seit Pfingsten, als der Heilige Geist auf die Apostel herabgekommen ist und sie wirklich neu geboren hat, ist derselbe Heilige Geist in der Kirche Christi und in der Welt lebendig und wirksam. Derselbe Heilige Geist ist in der Taufe eines jeden Christen lebendig und wirksam und schenkt jedem Getauften die Würde und Qualität eines „Königs, Priesters und Propheten“.

Jeder getaufte Christ ist König, um über seine leidenschaftlichen Begierden zu herrschen und sein Leben an Christus zu orientieren, Priester, um sich selbst und sein ganzes Leben, seine Nächsten und die Dinge dieser Welt ganz Gott hinzugeben, und Prophet, um seinem Leben und dem Leben seiner Nächsten immer wieder neu die Dimension der Ewigkeit einzuprägen, die dem Leben erst wirklich Sinn gibt. Derselbe Heilige Geist heiligt die eucharistischen Gaben von Brot und Wein und verwandelt sie in Leib und Blut Christi, die uns „zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben“ gegeben werden und immerzu in uns das Leben Christi erneuern und uns Ihm gleich machen bis zur vollkommen Identität: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Derselbe Heilige Geist gibt uns gute Gedanken ein, beschützt uns, bewahrt uns, behütet uns und erlöst uns. Denn alles gehört dem Geist und alles kommt vom Geist. Alles ist Gnade, wiederholen im Einklang mit der Heiligen Schrift die Väter und Asketen der Kirche immer wieder. Doch muß diese Gnade des Geistes, das heißt das Wirken des Heiligen Geistes in uns, in der Kirche und in der Welt, immer auch angenommen und von unserer eigenen persönlichen Bemühung begleitet sein, wobei diese eigene Bemühung selbst in letzter Instanz wieder ein Wirken des Heiligen Geistes ist. Denn „Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,13).

Deshalb ist die Spiritualität des Glaubens immer auch eine asketische Spiritualität, d.h. ein persönliches Bemühen, das die Gnade bei unserer Wiedergeburt und der Erneuerung unseres Lebens im Geiste Christi begleitet bis zu unserem Gleichwerden mit Christus und unserer Identifikation mit Ihm.

Ich habe schon gesagt, daß wir uns durch unsere Taufe mit Christus vereint haben, daß wir schon Heilige sind, daß wir in unserem Innersten, dessen Zentrum das Herz ist, die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung erneuern. All dies sind Wahrheiten und potenzielle Wirklichkeiten unseres Glaubens, die uns wie ein Siegel eingeprägt sind und in unserem Herzen wie ein Samenkorn gesät sind, das darauf wartet aufzugehen, zu blühen, zu wachsen und zu gedeihen und Frucht zu bringen. Daher sagen alle Kirchenväter, daß das christliche Leben eine fortwährende Aktualisierung der Taufe bedeutet, das notwendigerweise den ganzen Menschen beansprucht für den Kampf gegen die Sünde und die Befreiung von den Leidenschaften, denen wir auch nach unserer Taufe verfallen können, und für die fortwährende Läuterung des Herzens und um das Erlangen der Tugenden, das heißt guter Verhaltensweisen, um wahrhaft zur „Freiheit der Kinder Gottes“ zu kommen. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß es auch eine falsch verstandene Freiheit gibt, nach der jeder nach Lust und Laune alle tun dürfe, die jedoch zur Knechtschaft der Sünde führt: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“ (Joh 8,34)

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

Wir wissen alle, daß unser Herz ein Schlachtfeld fortwährender Kämpfe ist, in dem der Feind versucht, uns von Christus und unserer eigenen Taufe zu entfremden und uns in eine völlig andere Richtung zu führen, in jene des Egoismus, der Autonomie gegenüber Gott und der Ignoranz gegenüber den Nächsten sowie der übermäßigen Anhänglichlichkeit an dieser Welt und ihre Dinge durch Materialismus und Herrschsucht. Daher hat unser Herz nicht die nötige Ruhe und Frieden, die wichtiger sind als alles andere. Wie damals Kain, der seinen Bruder tötete, so ist jeder, der Sünden, Ungerechtigkeit oder Böses begeht, „unstet und flüchtig auf Erden“ (Gen 4,12). Unseren Bruder können wir aber auf ganz verschiedene Weise töten, etwa durch den gewollten Verzicht auf Kinder, durch Abtreibung, durch Verleumdung, durch unmoralisches Handeln oder auch nur durch Gleichgültigkeit gegenüber unseren Nächsten. In all diesen Fällen ist der Nächste für mich kein Bruder mehr oder er ist verwandelt in ein Objekt zur Erfüllung eigener Lust. Und wenn wir bedenken, daß all diese Sünden in der christlichen Welt sehr verbreitet sind, ja zur Verwirrung der Nicht-Christen mehr noch als in den nichtchristlichen religiös anders geprägten Zivilisationen, dann müssen wir fragen, woher das kommt?

Ich denke, der Grund dafür liegt in unserer Entfremdung von Gott, in der Autonomie des Menschen, die den Mensch zum alleinigen Maßstab für alles macht; der Grund dafür liegt auch in den falsch begründeten Menschenrechten und Freiheiten des Menschen, wenn diese nicht im Verhältnis zu Gott stehen; außerdem liegt der Grund in der exzessiven Genußsucht und im Hedonismus wie auch in der Nachlässigkeit und Laxheit in der Glaubenspraxis. Der moderne Christ hat im Allgemeinen nur noch eine vage Vorstellung von Gott, Den er oft verantwortlich macht für das Böse in der Welt und seine eigene Erfolglosigkeit. Wenn Gott existiert, wenn Gott gut ist, warum macht Er dann nicht alles für Seine Kinder? Denn wir haben doch festgehalten, daß „alles Gnade ist“!

Ja, „es ist alles Gnade“, aber wenn die Gnade nicht angenommen wird, weil unser Herz versteinert ist, dann kann es nicht allein Früchte bringen. Die Gnade wartet auf eine Offenheit unsererseits, ein Zusammenwirken mit uns. „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter“ (1. Kor. 3,9). Daher ruft uns Christus, uns selbst zu entsagen, unser Kreuz jeden Tag auf uns zu nehmen und Ihm nachzufolgen (vgl. Lk 9,23). Er sagt uns auch, „daß das Himmelreich bis heute Gewalt leidet und die Gewalttätigen es an sich reißen“ (Mt 11,12). Mit dieser „Gewalt“ ist der geistliche Kampf der Christen im Leben gemeint. Die „Gewalttätigen“ sind die, die mit großer Kraft und Ausdauer und mit der Hilfe des Heiligen Geistes den geistlichen Kampf auf Erden im Glauben bestehen. Der Apostel Paulus vergleicht das geistliche Leben mit dem Leben der Sportler, die sich viele Enthaltungen auferlegen. Er selbst quälte seinen Leib und bezwang ihn (vgl. 1. Kor. 9,23-27). Er ermuntert uns auch zum geistlichen Kampf und sagt: „Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde.“ (Hebr 12,4) Daher die asketische Maxime: „Gib dein Blut und du wirst den Geist empfangen.“ Was für ein Widerspruch: einerseits ist alles Gnade; andererseits müssen wir unser Blut geben, d.h. alle Anstrengungen unternehmen, derer wir fähig sind, damit die Gnade in uns wirken und Frucht bringen kann, uns nach dem Antlitz Christi prägen kann und wir bis „zum vollendeten Maß der Fülle Christi“ (Eph 4,13) reifen können, wenn wir wie Christus denken und fühlen werden (vgl. 1. Kor. 2,16; Phil. 2,5), mit anderen Worten: wenn wir die Liebe Christi in uns haben werden.

Nachdem meine Redezeit begrenzt ist, will ich nun in einem kurzen Überblick die  wesentlichen Punkte ansprechen, auf die hin wir unsere geistlichen Bemühungen richten müssen:

Das persönliche und gemeinsame Gebet zu Hause und in der Kirche auch zu jeder Zeit. Denn das Maß des Gebets ist die Unablässigkeit (vgl. 1. Thess. 5,17). Das wahre Gebet ist das Gebet, das wir „mit dem Geist im Herzen“ verrichten, das also unser ganzes Wesen beansprucht, nicht nur den Verstand (den Geist) oder die Lippen. Wir müssen wissen, daß der Verstand nichts anderes als eine Energie des Herzens ist. Damit der Verstand Ruhe findet, muß er in das Herz hinabsteigen und sich immer wieder mit dem Herzen vereinen. Dies kann nur mit Hilfe des Gebets geschehen. Während des Gebets schließen wir unseren Verstand in den Worten des Gebets ein und konzentrieren unsere Aufmerksamkeit in unserem Herzen. So kommen wir dahin, allmählich unser Herz zu spüren. Und das „Spüren des Herzens“ ist das „Spüren Gottes“, das Wahrnehmen der Gnade, die sich im Herzen verbirgt. Die Gnade schenkt unserem Herzen inneren Frieden, erfreut es und erfüllt es mit der Liebe Christi für die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung. Das Herz empfindet dann Mitleid und ist aufmerksam für das Leiden und die Bedürfnisse der Menschen, für die es das eigene Leben zu geben bereit ist.

Die Askese, also die Enthaltsamkeit von Speisen, eheliche Enthaltsamkeit (vgl. 1. Kor. 7,5) und im Allgemeinen Selbstbeherrschung in allem: beim Essen, beim Trinken, beim Arbeiten und beim Ausruhen usw. ist die beste Unterstützung beim Gebet. Denn wir können nicht wirklich beten, wenn unser Bauch ständig zu voll ist, wenn wir zu müde sind oder wenn wir unsere Instinkte nicht zu beherrschen wissen. Bis wir die Liebe zum Gebet wirklich für uns entdecken, wird unser Gebet selbst für uns eine große Askese darstellen. Denn der Teufel hasst nichts mehr als das Gebet. Deshalb müssen wir uns auch selbst bemühen zu beten und uns ein regelmäßiges Gebetsleben vorzunehmen sowie sonntags regelmäßig zum Gottesdienst zu gehen. Die Askese, besonders der Verzicht auf Speisen und das Maßhalten in allem, ist die einzige Form, mit der wir uns der Diktatur des Konsumismus entgegenstellen können, die für unsere moderne Gesellschaft spezifisch ist.

Das Ertragen von Leid. Zur Askese gehört auch das Ertragen von Leid. Unser Leben ist voller Versuchungen und Verführungen, davon ist niemand ausgenommen. Das läßt sich gar nicht vermeiden, auch wenn wir ein heiliges Leben nach dem Willen Gottes führen. Wichtig ist, daß wir wissen, wie wir uns in Leidenserfahrungen zu verhalten haben, damit diese uns zum Segen werden. Der Gläubige, der viel betet, der ein maßvolles Leben führt und in enger Verbindung zu seiner Kirchengemeinde steht, findet in all dem unerschöpfliche Quellen seelischer Energien, mit Hilfe derer es ihm gelingt, Leidenserfahrungen zu bewältigen, ohne zu sehr in Zweifel zu geraten oder die Hoffnung zu verlieren. Hören wir noch einmal auf den Apostel Paulus: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.“ (2. Kor. 4,8-10) Hier also noch ein anderer Widerspruch: Leid, Druck, Verfolgung und Krankheit… können uns nichts anhaben, sondern verleihen unserem Leben eine noch höhere Qualität und steigern unseren Mut im Kampf gegen das Böse. Im Schmerz entdeckt der Christ leichter den Sinn des Lebens, sogar geistliche Freude und im Tode das ewige Leben: „Siehe, durch das Kreuz kam Freude auf die ganze Welt“ – so singen wir Orthodoxen zu Ostern und an jedem Sonntag.

Der Dienst am Nächsten, der mit dem unbedingten Respekt vor jedem anderen beginnt. Dieser Dienst ist die natürliche Konsequenz aus einem reinen, empfindsamen, mitfühlenden Herzen, das auf eine höchst reale Weise seine ontologische Einheit mit der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung erlebt und wahrnimmt. Gute Beziehungen zwischen den Menschen entstammen nicht nur einer moralischen Haltung, sondern haben auch eine ontologische Grundlage: in Christus sind wir alle eins und jeder ist des anderen Glied (vgl. Röm 12,5).

Wenn die Orthodoxe Kirche besonders das geistliche Leben unterstreicht, die Mystik, das Gebet und die Askese, dann ist die Evangelische Kirche besonders in der Diakonie, im Dienst am Nächsten engagiert. Aus dem bisher Gesagten sollten wir verstehen, daß es keinen Widerspruch zwischen beiden Aspekten gibt, sondern daß diese beiden Aspekte komplementär zu verstehen sind. Dies ist auch mein letzter Wunsch für heute: daß wir voneinander lernen, jeder von der Erfahrung des anderen, und daß wir uns wechselseitig mit unseren Werten bereichern.

Metropolit Serafim