Der Beitrag der Orthodoxie zur europäischen Spiritualität (Wildbad Kreuth bei München, 14.11.2008)
Vortrag gehalten an der Tagung „Vom christlichen Abendland zum christlichen Europa. Perspektiven eines religiös-geprägten Europabegriffs für das 21. Jahrhundert“, Wildbad Kreuth, 13./14. November 2008
Sehr geehrter Herr Staatsminister,
sehr geehrte Abgeordnete des Europaparlaments,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Einleitung: Die Grundlagen Europas – Zum Begriff des „Christlichen Abendlandes“
Es ist für mich als Erzbischof und Metropolit der Rumänischen Orthodoxen Metropolie für Deutschland, Zentral- und Nordeuropa eine ganz besondere Freude, daß wir hier heute gemeinsam darüber nachdenken, welche Bestimmung wir als Europäer dem bisher weitgehend christlich geprägten Europa im 21. Jahrhundert geben wollen. Es freut mich besonders, daß die Hanns-Seidel-Stiftung als eine christlich-sozial und christdemokratisch orientierte politische Stiftung sich mit solchen Grundsatzfragen zur europäischen Selbstbestimmung und Identität beschäftigt, die über den politischen Alltag weit hinaus reichen. Das sind Fragen der Selbstwahrnehmung der Europäer in Vergangenheit und Gegenwart. Und es sind Fragen des Selbstbildes der Europäer, die ganz grundsätzlich über die Zukunfts-Chancen unseres Kontinents und unserer Völker entscheiden. Diese Selbstreflektion über Europa ist seit dem Epochenjahr 1989 und dem Ende des Kommunismus wieder umfassender möglich als vorher.
Der Eiserne Vorhang hat unsere ost- und südosteuropäischen Kirchen und Völker über 50 Jahre vom Westen abgeschnitten. Kontakte waren nur sehr schwer und vereinzelt möglich. Nach dem Fall der Mauer und dem Sturz der kommunistischen und vor allem atheistischen Regime im ehemaligen Ostblock 1989 ist diese Schau auf Europa in nach Identität fragender Absicht wieder quasi vollständig möglich, unter Einbeziehung des Ostens und Südostens Europas und der Ostkirchen. Das erlaubt eine neue Komplementarität sich notwendig ergänzender Sichtweisen von Ost und West zu Europa, die nur fruchtbar sein kann, wenn wir politisch und kirchlich auf unser gemeinsames europäisches Erbe blicken und dieses geistige, geistliche, religiöse und philosophische Erbe für die Gegenwart und die Zukunft nutzbar machen wollen.
Es ist tatsächlich unsere grundsätzliche Überzeugung, daß die europäische Einheit nur dann gelingen kann, wenn wir Europa und auch die Europäische Union nicht nur als Wirtschafts-, Finanz- und Verwaltungsgemeinschaft verstehen, wenn wir also die theoretische Füllung des Europabegriffs und auch die praktische Verwirklichung der EU im Alltag nicht nur den Bürokraten und Technokraten in Brüssel überlassen. Europa muß mehr sein als eine Freihandelszone mit Zoll- und Reisefreiheit und ungehindertem Warenaustausch und Bewegungsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt. Europa muß auch eine Wertegemeinschaft sein. Das heißt nicht, daß Europa seinen Bürgern die Werte und Wertorientierungen und Haltungen direktiv von oben vorzuschreiben hätte. Jeder ist in seiner eigenen Lebensführung und seinen politischen und religiösen Überzeugungen frei. Aber es bedeutet sehr wohl, daß Europa heute mehr denn je ein gemeinsames geistiges Fundament braucht. Und wir glauben fest daran, daß Europa dieses geistige Fundament im Christentum schon lange hat!
Wir erleben mit der gegenwärtigen Finanzkrise sehr deutlich, wie schnell ein rein wirtschaftlich und ausschließlich pekuniär orientiertes System und Denken ins Wanken geraten können, wenn diese vergänglichen Grundlagen – Geld und Gewinn, Profite und Rendite – zum alles ersetzenden Wertesystem werden und diese Werte gefährdet scheinen. Die gegenwärtige Finanzkrise, die vor allem Europa und die nördliche Hemisphäre der „freien westlichen Welt“ treffen, sind ein Zeichen und ein Warnsignal dafür, daß wir unsere Identität und unser ganzes Leben und unser Wertesystem eben nicht auf Geld und Markt, Konsum und Materialismus gründen sollen und aufbauen können.
Natürlich braucht die EU politische und administrative sowie juristische Institutionen, um gut zu funktionieren, um die wirtschaftlichen Abläufe zwischen ihren Mitgliedern für alle Beteiligten gewinnbringend zu organisieren, um gemeinsame Rechts- und Verwaltungsstandards zu erreichen, vergleichbare Lebensstandards sicherzustellen und – nicht zuletzt – Frieden zu sichern. Viel zu selten ist heute davon die Rede, daß diese Europäische Union primär und von der Intention ihrer Gründer her eine Friedensunion ist, keine Wirtschafts- oder Zollunion. Die Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft sind zwar sehr wichtig, aber sekundär. Und in dem Ziel des Friedens zwischen den Völkern Europas haben die europäischen Gründerväter eben auch eine grundsätzlich christliche Vision für das Zusammenleben der Völker zur Grundlage der Europäischen Gemeinschaft / EG und später der Europäischen Union / EU gemacht. Politiker wie Robert Schumann, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer handelten als überzeugte Christen.
Die praktischen Lebensformen und Standards der EU dürfen deswegen heute nicht zum Ersatz für eine inhaltliche und religiöse Füllung des Europabegriffes werden. Die vor allem christlich geprägte Identität Europas darf nicht im alltäglichen Zusammenleben ausgeklammert werden und der Diskussion in erlesenen Zirkeln von Philosophen und Theologen überlassen werden. Die christliche Prägung Europas muß eine prägende Identität auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht bleiben. Das sind keine elitären Überlegungen.
Besonders freue ich mich außerdem, daß Sie zu den Debatten dieses Symposiums auch mich als Vertreter der orthodoxen Kirche eingeladen haben. Im Westen wird viel zu oft der Terminus des „Christlichen Abendlandes“ verwendet, ohne daß auf die christlichen Traditionen der Orthodoxie Bezug genommen wird. Das ist nicht nur bedauerlich, das ist ein wirkliches Defizit. Das christliche Europa kann „nur mit beiden Lungenflügeln atmen“, wie dies der unvergessene Papst Johannes Paul II. so treffend formuliert hat. Die Frage nach der christlichen Identität Europas ohne Berücksichtigung der Orthodoxie beantworten zu wollen, bleibt unvollendet, unvollkommen und fragmentarisch. Das ist vergleichbar mit einer Sicht durch eine Brille, bei der auf einer Seite ein Brillenglas fehlt. Es ist nicht lange her, daß es manche Politiker gab, die meinten, Europa höre dort auf, wo die Orthodoxie beginne. Leider hat auch Samuel P. Huntington in seinem sonst sehr guten Buch „The Clash of Civilisations“ diesen falschen Eindruck weitergegeben. Papst Johannes Paul II. hat dies genau anders festgehalten. Er war ein Visionär für ein christliches Europa.
Wir Orthodoxe plädieren dafür, den Begriff des „Christlichen Abendlandes“ aus der aktuellen Debatte um die christlichen Prägungen Europas in Ost und West zu streichen oder zumindest sehr sparsam und auf jeden Fall differenziert zu verwenden. Es muß klar unterschieden werden zwischen der christlichen Prägung des ganzen Kontinents als Kulturbegriff – diese Prägung bezieht substanziell den orthodoxen Beitrag mit ein und steht in Opposition zu einer nicht-christlich geprägten Gesellschaft wie beispielsweise Asien im Allgemeinen oder China – und dem konfessionellen Selbstbild der westlichen Kirchen und Theologie als theologisches Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Ostkirche, mittels dem die westliche Theologie und Kirche ihre spezifischen Traditionen und Methoden und durchaus auch kulturschöpferische Leistungen beschreibt und zusammenfaßt.
Um es vielleicht auf den Punkt zu bringen, möchte ich vier Thesen formulieren:
- Der Begriff des „Christlichen Abendlandes“ ist ein grundsätzlich positiver Terminus, der das Selbstbild der westlichen Kirchen im Blick auf theologische Traditionen und Methoden sowie daraus erwachsene Kulturleistungen und gesellschaftliche Prägungen beschreibt.
- Gleichzeitig ist dieser Terminus des Christlichen Abendlandes ein Partikularbegriff, der parallel steht zum Terminus des „Christlichen Ostens“ als Umschreibung der ostkirchlich-byzantinisch geprägten Völker Ost- und Südosteuropas und ihrer orthodoxen Kirchen.
- Nur in einer vergleichenden und verbindenden Schau und Perspektive kommen wir von diesen beiden sich ergänzenden und komplementären Bestimmungen zu einer integralen Gesamtschau dessen, was wir im Blick auf Europa als christliches Proprium erkennen und auch für die Zukunft als geistige Prägung Europas verstehen wollen.
- So trifft der nicht konfessionell gebundene Begriff des „Christlichen Europa“ aus unserer Sicht den Sachverhalt am besten, daß unser Kontinent eine auch religiöse Prägung hat und sich auch als Kultur- und Wertegemeinschaft versteht. Dieser Begriff impliziert auch die orthodoxe Theologie, ihre Traditionen und ihre Spiritualität. Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, daß auch die Orthodoxie sich als Weltkirche versteht, sind doch orthodoxe Kirchen auf allen fünf Kontinenten mit Bistümern und Gemeinden präsent, auch wenn diese unterschiedlichen Jurisdiktionen angehören und leider nach außen nicht mit einer Stimme sprechen.
Das Proprium orthodoxer Spiritualität als Teilaspekt der europäischen Spiritualität
Nun waren meine bisherigen Ausführungen sehr theoretisch und abstrakt. Wir Orthodoxen lieben es aber nicht, nur abstrakt oder dogmatisch oder mit vielen begrifflichen Definitionen über unseren Glauben und solche Fragen zu reden. Das Christentum ist nach unserer Überzeugung und Praxis kein Glaubensgebäude von Lehrsätzen und Dogmen, sondern vor allem eine Glaubens- und Lebenspraxis, die die Menschen als Kinder des Lichts zur Quelle des Lichts führen soll: zum lebendigen Gott, der sich in Jesus Christus der Welt offenbart hat.
Erlauben Sie mir daher im Folgenden, einige wesentliche Aspekte orthodoxer Spiritualität vorzustellen.
Die westliche Spiritualität habe ich – vor allem seit 1994 hier in meiner Funktion als Diasporabischof der orthodoxen Rumänen in Deutschland, Österreich, Luxemburg, Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland – als eine sehr pragmatische Spiritualität kennengelernt, die theologisch sehr geprägt ist von der Scholastik und akademischer Theologe. In unserer Tradition wird die mystische Dimension – die innere Verbindung und Vereinigung mit Gott in Gebet und Liturgie – stärker betont als die weltliche Aktion als Ausdruck des Glaubens. Ziel der orthodoxen Spiritualität ist die Verwandlung des Herzens. Dies geschieht durch die Läuterung von den Leidenschaften und die Heiligung unseres ganzen Wesens durch den Heiligen Geist. Was diese grundsätzlichen Linien betrifft, so ist unsere ostkirchliche Theologie etwas einheitlicher geprägt als die westlichen Kirchen und ihre Theologie, die mehr Schulrichtungen und Frömmigkeitsstile ausgebildet hat.
Unsere Spiritualität zielt auf die innere Einheit von Glauben, Liturgie, Theologie, Mystik und den Formen des gottgeweihten Lebens im Mönchtum und in der Welt. Die lex orendi und die lex credendi fallen in der orthodoxen Tradition zusammen. Es gibt keinen Glauben ohne Gebet und keine Lehre ohne Liturgie. Eine so von der lebendigen Kirche und der Liturgie abgetrennte Theologie, wie ich sie manchmal hier im Westen erlebe, ist bei uns nicht vorstellbar. Auch die akademische und universitäre Theologie dient der lebendigen Kirche und ist kein philosophischer oder spekulativer Selbstzweck. Nach unserem Verständnis kulminiert die Lehre der Kirche in der Liturgie. Die Liturgie ist das gefeierte, gebetete und gelebte Dogma. Ohne diese Verbindung zum lebendigen Glauben der Kirche bleibt das Dogma eine Sammlung toter Lehrsätze und abstrakter Formeln.
Die bescheidene Kraft und gleichzeitig die große Ausstrahlung der Orthodoxie liegt gerade in ihrer Spiritualität. Unsere Spiritualität ist eine Frömmigkeit des Herzens und eine liturgische Spiritualität. Einerseits antworten wir auf die Taufgnade, indem wir uns bemühen, ein Leben nach den Geboten Gottes zu führen. Andererseits wissen und glauben wir, daß der Mensch sich nicht selbst erlösen kann, sondern daß dies immer Gnade Gottes ist.
Die Askese ist die grundlegendste Dimension der orthodoxen Spiritualität. Und genau hier hat der Westen aus unserer Sicht die meisten Defizite und leider unsere orthodox geprägten Länder mittlerweile auch. Leider sind Begriffe wie Materialismus, Konsumismus, Egoismus und die Reduktion von Welt und Mitmenschen auf Gebrauchs- und Verbrauchsobjekte keine oberflächliche oder moralisierende Kritik, sondern spiegeln wirklich grundlegende Lebenshaltungen und Orientierungen des zeitgenössischen Menschen ab. Der heutige Mensch ist von einer selten bisher in diesem Ausmaß aufgetretenen Geist- und Jenseitsvergessenheit und Diesseitsbezogenheit. Dies ist der neue Glaube im privaten Leben. Nachdem die großen politischen Ideologien und Systeme wie der Kommunismus und Sozialismus nicht das erwartete Paradies auf Erden geschaffen haben, bauen sich viele ein privates Glück auf und versuchen, das Paradies im eigenen Garten und Haus zu errichten. Die sozialen Beziehungen nehmen ab, die Liebe erkaltet, der Blick auf Gott und der Blick auf den Nächsten trübt ein und wird zu einem Blick auf das eigene individuelle Wohlergehen. Der Individualismus der Moderne hat nicht nur Gutes gebracht, sondern auch gemeinschaftszerstörerisch gewirkt.
Unsere orthodoxe Spiritualität betont dagegen den Gemeinschaftscharakter des menschlichen Lebens, politisch wie kirchlich. Der evangelische Theologe Jürgen Henkel hat in seiner Doktorarbeit über Dumitru Staniloae von 2003 beispielhaft aufgezeigt, wie dieses theologisch begründete gemeinschaftsorientierte Denken in der orthodoxen Liturgie und im orthodoxen Verständnis von Volkskirche und christlich geprägter Nation zum Ausdruck kommen.
Doch zurück zur Askese. Die Askese ist eine Alternative zum Materialismus und Konsumismus, zur Geistvergessenheit und Diesseitsbezogenheit der Gesellschaft unserer Gegenwart. Die Askese darf nicht als gesetzliche leib- und genußfeindliche Lebenshaltung mißverstanden werden. Die Askese bedeutet wesentlich mehr als ein gesetzlich vorgeschriebener Nahrungsverzicht. Die Askese will den Menschen befreien von den Bindungen an die Materie, an die Welt und ihre Objekte. Sie ist eine Selbstreinigung des Körpers und der Seele. Sie ist ganz abgesehen davon auch sehr gesund. Die Askese ist, wenn sie richtig verstanden und praktiziert wird, keine Beschränkung, keine Einschränkung, sondern im Gegenteil ein Befreiung des Menschen und eine Übung in Selbstbeherrschung. Die Askese zeigt, daß der von Gott nach seinem Ebenbild geschaffene Mensch, sich nicht von Instinkten, Affekten und Trieben leiten lassen muß, sondern von der vom Glauben erleuchteten Vernunft.
Eng verbunden mit der Askese bleibt aber das Gebet. Die Askese ist eine Befreiung von allem, was uns von Gott trennt, was unser Herz verhärtet und unsere Sinne zu Leidenschaften und Begierden verwandelt. Das Gebet ist die wichtigste Form der Askese des Gläubigen. Ins Gebet versunken, richtet der Gläubige seine ganzen Gedanken, seine ontologische Sehnsucht und sein ganzes Wesen auf Gott aus. Der Mensch konzentriert sich dabei vollständig auf Gott. Ziel ist die Seelenruhe oder der Seelenfriede. Nur im Gebet versunken, kann der Mensch seine umherschweifenden Gedanken zügeln und sich und sein ganzes Wesen im Herz konzentrieren. Das Gebet muß wie auch der Glaube vom Kopf in das Herz kommen und muß unser ganzes Wesen durchdringen.
Die Versenkung ins Gebet bringt den Menschen Gott näher, lenkt die Sinne, das Wollen und die Gedanken des Verstandes auf Gott. In den „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“ wird geschildert, wie der Christ das Herzensgebet verinnerlichen soll. Das Gebet braucht keine vielen Worte wie manche zu sehr intellektualisierenden Gebete hier im Westen, sondern der Höhepunkt des Gebetes ist das Schweigen. Dann sprechen nicht mehr wir, sondern dann spricht Gott zu uns. Dann wird es uns warm um das Herz, dann erfahren wir die Wärme und das Licht Gottes in uns. Das ermöglicht mehr Gotteserkenntnis als viele akademische Diskurse. Der rumänische Theologe George Remete hat dieser Frage ein ganzes Buch gewidmet: „Erkenntnis durch Schweigen“. Wir können Gott weder definieren, wir können ihn auch nicht philosophisch konstruieren. Sondern Gott ist, der Er ist, und Er offenbart sich der Welt auf Seine Weise.
Vielleicht ist es gerade unsere orthodoxe Mission, diesen Aspekt des christlichen Glaubens wieder stärker ins Gespräch zu bringen und vorzuleben. Es ist ja für uns erstaunlich, welche große Zustimmung in westlichen Kreisen Yoga und fernöstliche Zen-Meditation genießen. Selbst kirchliche Einrichtungen bieten Selbstfindung durch Yoga und andere asiatische Meditationspraktiken an. Dabei haben wir als Christen auch in Europa seit dem Anfang unsere reichen meditativen Glaubensvollzüge. Wer Meditation sucht, braucht nicht in den Fernen Osten zu blicken. Unsere christlichen und vor allem unsere orthodoxen Traditionen der Mystik und der Meditation bieten der Seele eine christliche Mystik und Spiritualität.
Diese asketische und mystische Spiritualität, die die mystische Vereinigung mit Gott sucht und daraus Konsequenzen für den Lebensalltag zu gewinnen sucht, ist das Proprium orthodoxer Spiritualität.
Zur Rolle der Orthodoxie für Gesellschaft und Europa
Wenn wir nun davon ausgehend in einigen abschließenden Erwägungen danach fragen, welche Rolle die Orthodoxie für Gesellschaft und Europa einnehmen, dann stehen wir zunächst vor einem Paradox. Einerseits ist die Orthodoxie weniger weltbezogen als die westlichen Kirchen. Uns zu aktuellen tagespolitischen Fragen grundsätzlich zu äußern, ist nicht unser Schwerpunkt. Gleichzeitig haben wir unser Konzept einer Symphonie von Staat und Kirche, also einer engen Beziehung von Staat und Kirche. Dieses Konzept hat sich nach dem Ende der Christenverfolgungen entwickelt und mußte vor allem in der Zeit der kommunistischen Verfolgung neu interpretiert werden. Jetzt haben wir aber trotz der Jahrzehnte mit Staatsatheismus eine lebendige Kirche in Rumänien. Auch in den anderen kommunistischen Ländern hat die Kirche überlebt. Das ist auch eine Gnade Gottes.
Die Kirche muß eine geistliche Heimat bieten. Unsere Kirche hat dies offensichtlich auch im Kommunismus vermocht. Genauso ist dies jetzt nötig angesichts der gewaltigen Herausforderungen von der Globalisierung bis zur Finanz- und Bankenkrise. Die Kirche muß darauf hinweisen, daß wir nicht nur Erdenbürger sind, sondern als getaufte Christen auch Bürger des Reiches Gottes, daß nicht nur materieller Wohlstand angestrebt werden soll, sondern geistlicher Reichtum viel wichtiger ist. Dieser Grund unseres Lebens muß neu ins Bewußtsein gerufen werden. Auch das zählt zur Mission der Kirchen im heutigen Europa. Und es ist nicht nur schade, sondern schädlich, daß die EU-Verfassung keinen Gottesbezug haben wollte. Daß die EU auf einen Gottesbezug in der Verfassung verzichtet hat, bedeutet nun aber nicht, daß Europa nicht mehr christlich geprägt ist, daß es nicht eine christliche Seele hat. Darauf haben schon Politiker wie Jacques Delors oder Romano Prodi immer hingewiesen. Der große französische Theologe Yves Congar sagte dies so: „Das Christentum hat Europa geschaffen.“
Die Globalisierung darf nicht zu einer Entwurzelung der Menschen führen. Denn das ist auch für die Politik und die Demokratie gefährlich, wenn Menschen keine stabile Identität haben. Das macht sie verführbar. Und die Wurzeln des Menschen liegen in seiner Familie, in seinem Volk und in seinem Glauben. Das dürfen wir im modernen Europa nicht voneinander trennen. Und wir dürfen nicht zusehen, wie aus Europa als einem christlich geprägten Kontinent nun ein Kontinent wird, in dem der Säkularismus, der Konsumismus und Materialismus, der moralische Liberalismus und Hedonismus und der Egoismus zur neuen Religion werden und neue Dogmen aufstellen. Die Entfremdung von Gott bedeutet eine seelische Leere.
Als Kirchen sind wir heute wie die Arche Noah. Wir befinden uns inmitten eines Sturms gegen Kirche und Christentum. Dieser Sturm ist nicht so sehr atheistisch geprägt, sondern mehr säkularistisch und relativistisch. Das ist unsere Herausforderung. In der Kirche aber befinden wir uns in Gottes Armen, wir finden unsere eigene Bestimmung und Identität als Geschöpfe und Kinder Gottes, gegen alle menschlichen Allmachtsphantasien von der Gentechnik bis zur Euthanasie, die heute in manchen Ländern Europas wie Holland schon gang und gäbe ist. Die von Gott geschenkte Würde und die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens vor Augen zu führen, das ist heute der wesentliche Einspruch des Christentums aller Konfessionen gegenüber einer Politik und Gesellschaft, die genau das gerne vergessen will. Wir brauchen in Europa eine neue Verinnerlichung. Hierzu kann die Orthodoxie mit ihrer mystischen und asketischen Spiritualität viele Impulse geben, denn die Orthodoxie ist die Kirche der Innerlichkeit par excellence.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa, Nürnberg