Interreligiöse Meditation (Alpbach, 28.08.2008)

 Vortag gehalten am Europäischen Forum, Alpbach (Österreich), 28.08.2008

Es ist für mich eine große Freude und Ehre zugleich, heute Morgen zu Ihnen– als Vertretern der Kultur, der Wissenschaft und der Politik beim Europäischen Forum Alpbach sprechen zu dürfen.

Unabhängig von allem, was uns möglicherweise unterscheidet, so eint uns doch unsere spirituelle, religiöse Dimension, die zum Menschsein dazugehört. Der Mensch ist in seinem Inneren ein tief religiöses Wesen. Er definiert sich als „homo religiosus“ (Mircea Eliade). Im Blick auf das Christentum sagte Tertullian im 3. Jahrhundert, daß die Seele des Menschen von Natur aus christlich sei. Und der französische Schriftsteller und Theologe Olivier Clément sagte: „Das Christentum ist die Tiefe des Lebens selbst… Jede bewußt erlebte Situation und Wirklichkeit führt zum Glauben…“

Die biblische jüdisch-christliche Offenbarung eröffnet uns, daß der Mensch „nach Gottes Ebenbild und Ihm ähnlich“ geschaffen ist oder besser gesagt nach dem Bilde Gottes mit dem Ziel der „Angleichung“ an Gott. Unsere Gottebenbildlichkeit ist uns als Gabe geschenkt, die „Angleichung“ an Gott müssen wir uns erarbeiten durch Synergie, das bedeutet durch Zusammenwirken mit Gott im Glauben, im Gebet und Askese.

Die Gottebenbildlichkeit des Menschen sagt aus, daß der Mensch nicht auf seine biologisch-physische Natur reduziert werden darf und daß er nach Überwindung seiner Natur und des Geschöpflichen und der „Ruhe“ in Gott strebt. „Du hast uns geschaffen für Dich, Herr, und unruhig ist meine Seele, bis sie nicht ruht in Dir“, hat der heilige Augustinus gesagt. Mit anderen Worten: der Mensch kann sich nicht „ausruhen“, er findet nur in Gemeinschaft mit Gott, seinem Prototyp, und seinen Nächsten Ruhe und Seelenfrieden.

Die Gemeinschaft, die Beziehung, die wechselseitige Abhängigkeit bilden das Fundament der Existenz, das Fundament des Lebens. Es gibt kein Leben ohne Gemeinschaft und Beziehungen. Und dies, weil Gott Selbst, der Erschaffer und Erhalter  des Lebens und alles Geschöpflichen, eine Gemeinschaft von Personen ist: Vater, Sohn und Heiliger Geist.

In Gott begegnen wir der absoluten Einheit auf dem Niveau der Natur und der absoluten Vielfalt auf der Ebene der Personen. „Jede Person enthält die Einheit durch ihre Beziehungen zu den anderen und auch zu sich selbst“(Johannes von Damaskus). Nur im Glauben an Gott den Dreifaltigen können wir verstehen, daß die nach dem Ebenbild Gottes geschaffene Menschheit eins ist in der Vielzahl der menschlichen Personen und daß die Einheit die Vielfalt nicht zerstört und die Vielfalt die Einheit nicht auflöst. Der Glaube bringt also Einheit und Vielfalt zusammen.

Nach unserem christlichen Glauben hat Gott Sein Ebenbild im Menschen und in der Menschheit durch Seine Fleischwerdung in Seinem Sohn, dem Erlöser Jesus Christus, erneuert, der Mensch geworden ist, damit der Mensch vergöttlicht wird. Die Vergöttlichung des Menschen bedeutet seine höchste Humanisierung, die vollständige Gemeinschaft mit Gott, den Menschen und der Schöpfung. Der Mensch wird dadurch nicht selbst zu Gott, aber er lebt in der göttlichen Gnade und ist umfangen von ihr.

Die menschliche Person ist ein „Mikrokosmos“, wie es die Kirchenväter nennen. Sie schließt in sich die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung ein, um in Gemeinschaft mit der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung zu sein. Die Sünde an sich besteht gerade in der Zerstörung der Gemeinschaft, der Harmonie mit Gott und den Nächsten. Wenn der Glaube oder die Religion (vom Lateinischen „relegere“) uns mit Gott und unseren Nächsten verbindet, dann ist es der Teufel, der uns in Versuchung bringt zu sündigen und diese Verbindung zerstört, der die Gemeinschaft stört und die Einheit, die sich in ihr verwirklicht. „Diabolos“ heißt auf Griechisch der Spalter, der Verleumder, der der Feindschaften erzeugt.

Ich habe gesagt, daß der Mensch ein Mikrokosmos ist, ein Universum im Kleinen, in dem die Harmonie der Teilglieder herrscht: Leib, Seele und Geist mit all ihren Funktionen und den den Menschen eigenen Fähigkeiten.

Nach der Heiligen Schrift und der Lehre der Väter ist das Herz das zentrale Organ des Menschen, der Ort, an dem wie in einem Fokus alle psycho-physischen Kräfte des Menschen zusammenlaufen. Zugleich ist das Herz der Ort, an dem die in der Taufe empfangene Gnade Gottes besonders wohnt, also die göttliche unerschaffene Energie, die die Fähigkeiten des Menschen potenziert und an ihm die Angleichung an Gott vollbringt. Die Vernunft selbst ist nichts anderes als eine Energie des Herzens. Mit anderen Worten hat die Vernunft ihren Ursprung, ihre Quelle, im Herzen. Genau deshalb ist der Mensch gerufen, sich im Herzen zu konzentrieren, damit die Vernunft ihre Zerstreuung einstellt und im Herzen zur Ruhe kommt. Die Mittel, durch das der Geist vom Kopf zum Herzen hinabsteigen kann, sind Gebet und Kontemplation sowie die Meditation über das Wort Gottes. „Betet ohne Unterlaß!“ (1 Thess 5, 17) mahnt uns der heilige Apostel Paulus. Und der Erlöser Selbst sagt: „Seid allezeit wachsam und betet…“  (Luk 21, 36). Die großen Praktiker des Gebets lehren uns, daß wir unsere Vernunft in der Zeit des Gebets in die Worte des Gebets einschließen und uns auf unser Herz konzentrieren sollen. So steigt das Gebet vom Kopf zum Herzen hinab und beansprucht unser ganzes Wesen für das Gebet. So wird das Gebet zu einem Gebet des Herzens.

Die Schwierigkeit, auf die wir beim Beten treffen, ob zu Hause oder in der Kirche, ist genau diese Zerstreuung der Vernunft, unser Unvermögen die Aufmerksamkeit auf das Gebet zu konzentrieren, respektive uns in unserem Herzen zu sammeln. Daher verzichten viele heute lieber auf das Gebet, weil sie die Freude des Gebets nicht spüren können, sondern das Gebet als Beschwernis empfinden. Andere sind schon zufrieden mit einem vernunftorientierten, kalten Gebet, welches das Herz nicht einbezieht. Unsere Beschwernis dabei, uns auf das Gebet zu konzentrieren, rührt daher, daß wir in unserem Leben sehr stark mit weltlichen äußerlichen Dingen beschäftigt sind. Der moderne Mensch ist ein extrovertierter Mensch, der von seinen Pflichten und dem Alltag überbeansprucht wird. Ihm fehlt die Zeit so sehr, daß er keine Zeit für das Gebet findet. Und wenn er dann doch kurz betet, dann schafft er es nicht, seine Vernunft im Herzen zu konzentrieren, so daß er das Gebet mehr als Last empfindet, statt als Befreiung. Hier gibt es kein anderes Heilmittel, als uns selbst dazu zu bringen, immer mehr und immer häufiger zu beten. Die „Qualität“ und Tiefe des Gebets kann auch aus der Zeit erwachsen, die wir dem Gebet widmen. Je mehr wir beten, umso mehr wachsen und reifen wir im Beten und kommen dem kontemplativen Gebet immer näher, das kein aktives Beten im Sinne einer Tätigkeit mehr ist, sondern ein Zustand des Gebets.

Die orthodoxe Spiritualität legt einen besonderen Akzent auf das Gebet und das Herz als „Organ“ des Gebets. Sie fördert die Mystik oder die innere Erfahrung der wirksamen Gnade Gottes als Heilmittel für seelische Unausgeglichenheiten, denen der Mensch in einer immer mehr Gott entfernten Gesellschaft und Welt ausgesetzt ist. Daher ist in der Orthodoxen Kirche alles auf das Gebet und die Schaffung einer Atmosphäre der Innerlichkeit ausgerichtet, die die Kontemplation und Meditation fördert und ermöglicht: die Architektur, die Ikonographie, die Hymnologie, die symbolreichen Rituale, der Gesang…

Das Gebet wird auch von der Askese unterstützt, das heißt ein gemäßigtes Leben im Blick auf Essen, Arbeit, Ruhe, eheliche Beziehungen… Die Orthodoxie empfiehlt das Fasten, also vegetarische Kost, am Mittwoch und Freitag, wie auch in den vier großen Fastenzeiten des Jahres: vor Ostern (7 Wochen), vor Weihnachten (6 Wochen), vor dem Entschlafen der Gottesmutter (am 15. August; 2 Wochen) und vor dem Feiertag der Großen Apostelfürsten Petrus und Paulus (zwischen einer und drei Wochen). Das Gebet und die Askese sind Mittel des geistlichen Kampfes gegen die Sünde und die Leidenschaften. Häufig verliert der Mensch seine innere Freiheit und wird ein Knecht der Sünde und der Leidenschaften wie Stolz, Habsucht, Völlerei, Unzucht, Trunksucht etc… So ist es unmöglich, uns von solchen Leidenschaften zu befreien ohne einen entschiedenen innerlichen geistlichen Kampf gegen diese Leidenschaften, die uns beherrschen. Gewiß muß dieser Kampf unter seelsorgerlichem Rat eines erfahrenen geistlichen Vaters erfolgen, der uns mit seinem Gebet und seinem Rat gleichermaßen hilft und besonders durch die Gnade Gottes, die in den vom Priester gespendeten Sakramenten den Menschen geschenkt wird.

Gebet und Fasten sind gleichzeitig exzellente Mittel des Kampfes mit den Schwierigkeiten des Lebens und den Versuchungen des Alltags, die im Leben eines jeden gegeben sind. Dies deshalb, weil unser ganzes Wesen sich dadurch von den ganzen angesammelten negativen Energien befreit und sich erneuert durch die positiven Energien, die nichts anderes sind als das Wirken der Gnade Gottes in unserem Leben. Gebet und Askese schaffen den spirituellen Raum in unserem Wesen, daß die Gnade Gottes frei und ungehindert wirken kann.

Ich könnte diese kurze Einführung in die orthodoxe Spiritualität gar nicht schließen, ohne auf das „Jesusgebet“ beziehungsweise „Herzensgebet“ einzugehen. Dieses berühmteste Gebet der Ostkirche ist ganz kurz, aber faßt die gesamte christliche Spiritualität und Theologie knapp und präzise zusammen: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich über mich Sünder (oder uns Sünder).“ Dies ist ein Gebet, das jederzeit gesprochen werden kann, was eine Pflicht des Mönches, aber auch der Gläubigen darstellt. Dieses Gebet – ein wahrhaftiges Bekenntnis des Glaubens – soll ständig mit der notwendigen Aufmerksamkeit wiederholt werden – an jedem Tag und in jeder Situation: auf der Reise, bei der Arbeit, usw. Dieses Gebet hat die Kraft und Gabe, das Herz leichter zu sammeln, als lange Gebete.

Durch dieses Jesusgebet, das nie aus dem Kontext des liturgischen Betens der Kirche herausgelöst werden kann, sondern als eine Ergänzung dazu zu verstehen ist, kommt der Gläubige allmählich dahin, sein Herz innerlich zu spüren: es beginnt wahrnehmbar zu schlagen und wärmt uns. Dieses „Spüren des Herzens“ heißt Gott Selbst in uns zu spüren, sagt Diadochus von Photike (6. Jh.). Es bedeutet auch, daß der Mensch zur Läuterung des Herzens und zum Seelenfrieden und zur wahren Liebe zu allen Menschen und zur ganzen Schöpfung gelangt ist.    

Was ist aber ein reines Herz, fragt der heilige Isaak der Syrer (7. Jh.)? Er gibt darauf zur Antwort: „Ein reines Herz ist das Herz, das für die ganze Schöpfung, für alle Menschen, für Vögel und Vieh, für die Dämonen und alles Geschaffene brennt. Wenn ein Mensch mit reinem Herzen an all dies denkt oder dies sieht, dann vergießt er Ströme von Tränen.“  Weil er erfüllt ist von Mitgefühl und Mitleid. Solche Menschen braucht die Welt in unserer heutigen Zeit mehr denn je.

Ich freue mich sehr, daß Sie hier im Rahmen des Europaforums so grundlegende Fragen der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung diskutieren und dabei auch Raum lassen für das Gebet, geistliche Gedanken und die Reflexion von Fragen, die den Lebensalltag weit überschreiten. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Mut zur Grundsätzlichkeit und wünsche Ihnen viel Erfolg, gute Gespräche und fruchtbare Ergebnisse Ihrer Begegnungen! Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

Gott segne Sie!

Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa