Pastoralbrief zum Weihnachten 2022

Die Fülle des Lebens

„Ich bin in die Welt gekommen, damit die Welt das Leben habe und es zur Fülle habe”! (Johannes 10,10).

Hochwürdige und ehrwürdige Väter, geliebte Gläubige,

Wir befinden uns in der schönsten Zeit des Kirchenjahrs, der Zeit der Feiertage, die der Geburt des Herrn, der Beschneidung des Knaben Jesus und der Taufe des Herrn gewidmet sind und auf die wir uns mit der sechswöchigen Fastenzeit, durch gesteigertes Beten, durch das Bekennen unserer Sünden im Beichtstuhl und durch die Kommunion am Leib und Blut des Herrn vorbereitet haben.

Während dieser ganzen Zeit, vor allem aber jetzt zu Weihnachten, haben wir in unseren Kirchen und Häusern unsere beliebten rumänischen Weihnachtslieder gesungen, die „Colinde”: Kinder, junge und alte Menschen – alle nach dem Brauch der Ahnen. Auch haben viele von uns über Radio und TV Trinitas Programme und Konzerte mit Weihnachtsliedern gehört, die unser Herz mit Freude erfüllt haben. Es gibt wohl keine Rumänen auf der großen weiten Welt, die nicht angerührt sind, wenn sie Colinde zur Weihnacht hören. Die Colinde geben in einer poetischen, zugleich aber populären Form das Wunder der Geburt des Herrn in der Höhle von Bethlehem, die Anbetung des Jesuskindes durch die drei Weisen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken von Gold, Weihrauch und Myrrhe, die Anbetung durch die Hirten, die Flucht nach Ägypten, die Kindheit des Erlösers in Nazareth, die Verwandlung von Wasser in Wein in Kana Galiläa und andere Wunder aus dem Leben des Herrn wieder. Wenn wir sie mit frommer Andacht hören, dann stärken die Colinde unseren Glauben, vermehren in uns die Liebe zu Gott und zu unseren Nächsten und machen uns zu besseren und wohltätigeren Menschen.

Geliebte Gläubige,

Im zehnten Kapitel des Evangeliums nach Johannes sagt der Erlöser: „Ich bin in die Welt gekommen, damit die Welt das Leben habe und es zur Fülle habe.” (Johannes 10,10) Das „Leben zur Fülle” bedeutet nicht materiellen Überfluss, sondern geistlichen Überfluß, also das Leben in Gemeinschaft mit Gott dem Herrn, Der Frieden und Dankbarkeit in unsere Seele bringt. Materieller Überfluss kann uns keinen Frieden in der Seele schenken, wenn wir Gott den Herrn nicht in unserem Herzen tragen. Durch die Sünde des Ungehorsams haben die ersten Menschen, Adam und Eva die Gemeinschaft mit Gott eingebüßt und wurden aus dem Paradies in diese Welt vertrieben, die ohnehin nichts anderes ist als ein „Jammmertal”, wie es der Psalmist David nennt (Psalm 84,7). Ein Jammertal, das mit dem Tod endet! Denn „der Tod ist der Sünde Sold”, wie der Apostel Paulus schreibt (Römer 6,23). Niemand konnte die Menschen vom Tod erlösen und ihnen das ewige Leben schenken als allein Gott der Herr, der aus Seiner unendlichen Liebe zu Seiner Schöpfung heraus Selbst Mensch wird und die Sünden der ganzen Welt auf Sich nimmt, um uns vor der ewigen Verdammnis zu retten. Nur ein Gott, Der selbst die Liebe ist (vgl. 1. Johannes 4,8), konnte dieses Wunder vollbringen: Mensch zu werden und anstelle der Menschen, die gesündigt haben, zu leiden und zu sterben! Der christliche Glaube ist wahrhaftig eine Religion der Liebe und kein Mensch kann sie verstehen, wenn er nicht selbst erfüllt ist von Liebe! Nur die Liebe schenkt Leben, nur die Liebe schenkt Frieden und Freude; nur die Liebe kann jemand dazu motivieren, sich selbst aufzuopfern für seine Nächsten, sogar für seine Feinde, so wie der Erlöser Jesus Christus Sein Leben für uns Menschen gegeben hat.

https://www.youtube.com/watch?v=v=s0eXp_8GDw0

Doch wie können wir die Liebe erlangen, um uns dieses Lebens in der Fülle zu erfreuen, das der Erlöser durch Sein Kommen in die Welt gebracht hat? Wenn Gott die Liebe und auch die Quelle der Liebe ist, dann bedeutet dies, dass wir nur in permanenter Gemeinschaft mit dem Erlöser Jesus Christus an Seiner Liebe und dem Leben in Fülle teilhaben können. So wie ein Kind die Liebe der Mutter nur erfährt, wenn es an der Brust der Mutter bleibt, so werden auch wir der Liebe Gottes nur teilhaftig, wenn wir uns darum bemühen, immer in Verbindung mit Ihm zu bleiben. Dieses Bemühen besteht in erster Linie im Beten ohne Unterlass, wodurch wir uns mit Gott im Innersten unseres Seins, also im Herzen, vereinigen, wo Er seit unserer Taufe im Verborgenen wohnt. Das beharrliche Gebet, das voller Glauben und Demut sowie in dem Bewusstsein unserer Sündhaftigkeit verrichtet wird, entzündet in unserem Herzen das Feuer der Liebe zu Gott; es entfacht von neuem unsere inneren Seelenkräfte und schenkt uns neues Leben. Der Erlöser selbst sagt im Evangelium nach Lukas: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!” (Lukas 12,49) Dieses Feuer ist das Feuer der Liebe, das Gott in den Herzen der Gläubigen entfacht, wenn sie zu Hause, unterwegs, bei der Arbeit und vor allem in der Kirche beten. So erwärmt das Gebet unser Herz und lässt es glühen für Gott, für unsere Nächsten und für die ganze Schöpfung.

Der Gläubige, der viel und „ohne Unterlass” betet, wie uns der Heilige Apostel Paulus nahelegt (vgl. 1. Thessalonicher 5,17), empfindet immer Frieden und Dankbarkeit im Herzen; er verzweifelt nicht, wenn er von Krankheit leidgeprüft wird, wenn er von Feinden verfolgt und unterdrückt wird oder im Leben nicht den erwünschten Erfolg hat. Ganz im Gegenteil bewahrt er unter allen Umständen Ruhe und Ausgeglichenheit und sieht in allem, was ihm im Leben widerfährt, Gott am Werk. Er glaubt fest daran, „dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen” (Römer 8,28). Wenn wir Gott lieben und von ganzem Herzen zu Ihm beten, dann wendet Gott alles Böse, das aufgrund unserer Sünden über uns kommt, zum Guten! Doch dafür brauchen wir viel Geduld im Leiden und in den Prüfgungen des Lebens im unerschütterlichen Glauben daran, dass „Gott uns nicht versuchen lässt über unsere Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt.” (1. Korinther 10,13) Durch unser tägliches Gebet erneuert Gott nicht nur unsere inneren Seelenkräfte zum Kampf mit den Beschwernissen des Lebens, sondern schenkt uns auch die Gewissheit unserer Erlösung, also des ewigen Lebens in Gemeinschaft mit Ihm und allen Heiligen und Erlösten in Seinem Reich. Der  Erlöser selbst sagt im Evangelium nach Matthäus: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?” (Matthäus 16,26) Wir leben auf der Erde, aber unsere Bestimmung ist das Himmelreich!

Geliebte Gläubige,

Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat das Jahr 2023 zum „Ehrenjahr der Seelsorge an betagten Menschen” erklärt. Dank der besseren Lebensbedingungen als zu früheren Zeiten und der Fortschritte in der Medizin ist die Lebenserwartung der Menschen in der heutigen Welt gestiegen. Auf der anderen Seite gefährden die drastisch gesunkene Geburtenrate aufgrund der chirurgischen Abtreibungen und der hormonellen Empfängnisverhütung durch die Pille wie auch den Exodus ins Ausland nicht nur das Überleben unseres Volkes, sondern erzeugen auch ein soziales Ungleichgewicht, das schwer zu bewältigen ist. Schon in naher Zukunft wird es immer mehr alte Menschen geben und gleichzeitig immer weniger Kinder und junge Menschen! Wenn wir auf unsere Dörfer in Rumänien blicken, dann stellen wir voller Schmerz fest, dass sie überaltert und manchenorts in Auflösung begriffen sind. Die jungen Leute sind ins Ausland ausgewandert, die alten Menschen sind einsam zurückgeblieben und vergehen vor Sehnsucht nach ihnen. Sie fühlen sich überflüssig und unbeachtet. Einsamkeit ist überhaupt die Krankheit der modernen Gesellschaften, weil es keine reale Gemeinschaft zwischen den Menschen mehr gibt, die auf Glauben und Liebe beruhen, die dem Leben erst Sinn verleihen. Daher rührt auch die ständige Zunahme an Depressionen und so vielen anderen psychischen Erkrankungen.

In dieser Situation sind die Diener der Kirche gerufen, sich mit Unterstützung der Gläubigen in Liebe den betagten Menschen zuzuwenden durch Hausbesuche oder Besuche in den Altenheimen, ihnen in ihren Nöten zu helfen, ihnen Mut zu machen und sich auch um ihr spirituelles Leben zu kümmern, ihnen die Bibel, den Psalter und Gebetsbücher, Bücher mit Heiligenviten und andere geistliche Erbauungsliteratur zu geben, vor allem aber sie zu ermutigen zu beichten und die Kommunion an den Heiligen Sakramenten Christi zu empfangen. Dies sind Werk der christlichen Barmherzigkeit, die von Gott beim Jüngsten Gericht ihren Lohn empfangen werden (vgl.  Matthäus 25).

In der Hoffnung, dass Ihr Euch diese geistlichen Weisungen zu Herzen nehmen werdet und sie alle nach Euren je eigenen Möglichkeiten auch befolgen werdet wünsche ich Euch allen, dass Ihr die Heiligen Feiertage in Frieden und Freude verbringen werdet inmitten Eurer Familien!

Da wir nun alle froh und fröhlich sind mögen wir uns an den Rat des Weihnachtsliedes halten: „Vergiß nur nicht, wenn du fröhlich bist, Rumäne, auch gut zu sein”.

Frohe Weihnachten und

Auf viele Jahre! Ad multos annos!

† Metropolit Serafim

[Übersetzung: Pfarrer Dr. Jürgen Henkel, Selb]