Zusammenleben: Lernen aus der Pandemie (Rom, 24.10.2022)

Intervention bei einem runden Tisch zum Thema „Zusammenleben: Von der Pandemie lernen“, organisiert von der Gemeinschaft „Sant‘ Egidio“, Rom (24.-27. Oktober 2022).

Die vergangenen zwei Jahre, die von der Covid-19-Pandemie geprägt waren, waren eine große Versuchung für die gesamte Menschheit. Viele haben darin Gottes Zorn wegen der Sünden der Menschheit gesehen. Von Gottes Strafe für die Sünden zu sprechen, scheint mir jedoch der Grundwahrheit des Christentums zu widersprechen, dass „Gott die Liebe ist“ (1 Joh 4,8). Obwohl das Alte Testament oft von Gottes Zorn gegen Sünder, von seiner Rache oder Züchtigung spricht, müssen diese Ausdrücke im Rahmen der spirituellen Vorstellungen der damaligen Menschheit verstanden werden. Heute können wir diese Worte nicht mehr auf die Menschen anwenden, die oft zerbrechlich, wenig glaubend oder sogar ohne Glauben sind, weil das nur Anstoß erregen würde.

Wenn Gott die Liebe ist, können wir nicht von Gottes Rache oder Strafe für Sünden sprechen. Denn Liebe straft nicht, rächt sich nicht, rebelliert nicht! Im Gegenteil, Liebe verzeiht alles, hofft alles, erträgt alles! (vgl. 1. Kor 13). Es sind die Sünden selbst, die uns bestrafen, uns leiden lassen und uns unglücklich machen! Wie? Die Heilige Schrift sagt: „Sünde ist das Übertreten des Gottes Gesetz“ (1 Joh 3,4; Röm 4,15). Seit Anbeginn der Welt hat Gott Gesetze aufgestellt, die das Universum und auch den Menschen anleiten, der ein Mikrokosmos ist, wie die Kirchenväter sagen. Im Herzen eines jeden konzentriert sich die ganze Menschheit und der ganze Kosmos! Das ist eine tiefe Realität, die wir nur durch den Glauben erreichen und erfassen können!

Wir wissen, dass alles, was im Universum existiert, wie die Sterne, die Himmelskörper, die Planeten, die Galaxien und Metagalaxien, alles, absolut alles, den Gesetzen Gottes gehorcht, die in ihre ureigene Natur eingeprägt sind: „er gab ihnen eine Ordnung, die dürfen sie nicht überschreiten“ sagt König David (Ps 148,6). Und weil sich alle Existenzen den Gesetzen Gottes unterwerfen, herrscht Harmonie im Universum. Sonst herrscht Chaos! Wir wissen, dass das griechische Wort Kosmos auch Harmonie bedeutet. Aber jetzt übertritt nur der mit persönlicher Freiheit begabte Mensch die Gesetze Gottes! Und folglich herrscht in ihm und in der Menschheit nicht Harmonie, sondern Chaos! Und der Mangel an Harmonie lässt uns sehr leiden! Wir übertreten die physikalischen Naturgesetze und die moralischen Gesetze, die in den zehn Geboten zusammengefasst sind, jeden Tag, freiwillig oder unfreiwillig, bewusst oder unbewusst. Und die Natur vergibt nie! Sie rebelliert und wendet sich gegen uns durch allerlei Prüfungen und Schwierigkeiten: Stress, seelische und körperliche Krankheiten, Trübsal, Mangel an innerem Frieden usw. Zum Beispiel: Wir essen was dem Magen schadet, wir trinken oder arbeiten zu viel. Wir übertreten die Gesetze der Fortpflanzung mit allen möglichen Mitteln, wir verletzen die anderen, wir vergeben nicht und wir behalten das Böse im Herzen usw. All diese Sünden, welche wiederholt zu bösen Leidenschaften werden, unterjochen uns, und machen uns krank und unglücklich. Auch dürfen wir die Sünden nicht vergessen, die vor allem mit der Gier gegen die Umwelt verbunden sind, die sie zerstört und das menschliche Leben in seiner bloßen Existenz bedroht.

Wir können also verstehen, dass die Pandemie, wie alle Krankheiten und Unglücke in unserem Leben, die Auswirkung unserer Sünden und somit nicht eine Strafe Gottes sind. Aber aus allem, was ich gerade gesagt habe, darf man nicht annehmen, dass Gott sich aus seiner Schöpfung zurückgezogen hat und dass er im Leben des Menschen und des Universums nur durch seine Gesetze gegenwärtig ist. Ganz im Gegenteil! Durch seine ungeschaffenen Energien oder seine Gnade ist Gott überall im Universum, im Leben der Menschheit anwesend. Er ist jedes Menschen und jeder Existenz gegenwärtig. Gott wacht zu jeder Zeit über seine Schöpfung, erhält sie, bewacht sie und führt sie auf geheimnisvolle Weise zu ihrem endgültigen Ende. Und weil Gott Liebe ist, respektiert er die menschliche Freiheit unendlich und drängt sich niemandem auf. Er zieht sich geheimnisvoll zurück, wenn der Mensch Böses tut, gerade aus Respekt vor seiner Freiheit. Aber er kehrt zurück, sobald der Mensch seine Sünden bereut und seine Lebensweise korrigiert.

Wir fragen uns, wie kann Gott in unserem Unglück, unserer Angst oder unserem Leiden oder während einer Pandemie wie Covid 19 – all dies sind Folgen unserer Sünden – gegenwärtig sein? Weil sich – wie ich gerade gesagt habe – Gott aus Respekt vor unserer Freiheit zurückzieht, wenn wir sündigen. Als Antwort finden wir hier ein Wort des heiligen Paulus, der sagt: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden“ (Röm 5, 20). Das bedeutet, dass Gott uns niemals im Stich lässt. Obwohl Gott unsere Freiheit respektiert, sich ihm durch Sünde zu widersetzen, ist er umso mehr bei uns, wenn wir wegen unserer Sünden leiden.

Ein liebevoller Vater verlässt seine Kinder niemals, selbst wenn sie sich gegen ihn auflehnen. Der Vater leidet mit seinen Kindern, hilft ihnen in ihrem Unglück und tut alles, um sie nach Hause zu bringen. Eine Maxime der asketischen Väter besagt, dass die Liebe Gottes zum größten Sünder tiefer ist als die Liebe des größten Heiligen zu Gott! Wir verstehen dann, dass wir niemals an der Barmherzigkeit Gottes für irgendeinen Menschen zweifeln dürfen, wie sündig er auch sein mag! Dies rechtfertigt uns jedoch nicht, weiter zu sündigen mit dem Gedanken, dass Gott uns vergibt, weil er unendlich gut und barmherzig ist. Ja, Gott vergibt die Sünde, beseitigt aber nicht das durch die Sünde verursachte Leid. Er trägt unser Leid mit uns, gibt uns Mut in den Irrungen und Wirrungen des Alltags und richtet uns daraus auf.

Was können wir aus der Pandemie lernen?

Unser Leben ist zerbrechlich und hängt davon ab, ob wir die Gesetze Gottes respektieren, die in unsere Natur eingeschrieben sind. Um Harmonie und Frieden in unseren Herzen, in der Gesellschaft und mit der Umwelt zu erfahren, müssen wir natürliche und moralische Gesetze respektieren, denn sie sind uns genau gegeben, um uns vor Erniedrigung zu schützen, und auf dem Weg der Vollkommenheit voranzukommen, was unser Lebensziel auf der Erde ist. Wir sind „nach dem Abbild und Gott ähnlich“ geschaffen. Deshalb tragen wir in unserem Herzen eine Dynamik, die uns dazu bringt, unserem Prototypen ähnlich zu werden, und zwar der Liebe. Nur die Liebe zu Gott, zu den Menschen und zur ganzen Schöpfung macht uns glücklich. Im Grunde ist unser ganzes Leben eine Spannung in Richtung Liebe, eine Anstrengung, Liebe in unserem Herzen zu erlangen. Hier ist, was der heilige Isaak der Syrer (7. Jahrhundert) über den Menschen mit einem mitfühlenden Herzen schreibt, der ganz Liebe wurde:

„Es ist ein Herz, das für die ganze Schöpfung brennt, für Menschen, Vögel, Tiere, Dämonen, für alle Geschöpfe. So stark, so machtvoll ist sein Mitgefühl, dass sein Herz bricht, wenn er das Böse und das Leiden der einfachsten Kreatur sieht. Deshalb betet er zu jeder Zeit unter Tränen für die Feinde der Wahrheit und für all jene, die ihr schaden, damit sie bewahrt und ihnen vergeben wird. Er betet sogar für die Schlangen in dem unermesslichen Mitgefühl, das in seinem Herzen ohne Maßen nach dem Bild Gottes aufsteigt.“

Möge der Herr uns helfen, solch ein mitfühlendes Herz für alle Menschen und für die gesamte Schöpfung zu erreichen!

+ Metropolit Serafim