Chiara Lubich – zum Gedenken (München, 14.04.2008)

Wort gehalten in der Michaelskirche zum Gedenktag für Chiara Lubich, die Begründerin der Fokolar-Bewegung, München 14.04.2008

Sehr geehrter Herr Erzbischof,

sehr geehrter Herr Landesbischof,

liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wir erinnern uns heute an eine Frau, die die Geschichte der Welt durch ihr Charisma geprägt hat. Es gibt Millionen von Menschen, die ihre Liebe zu Gott und den Nächsten von Chiara Lubich gelernt haben oder durch sie neu entzündet wurden. Denn die Liebe war das Leben von Chiara und bleibt es für die Fokolarbewegung, die sie 1943 in den schwersten Momenten der Menschheit gegründet hat, als alle Hoffnung und alle Ideale zerstört waren. Nur die Liebe konnte aus den Trümmern des Krieges Neues erwachsen lassen. Und genau diese Liebe zu Christus, dem Verlassenen, aber auch dem Auferstandenen, hat Chiara wie ein Feuer in ihrem Herzen gespürt und an ihre ersten Gefährtinnen weitergegeben. So entstand der erste Fokolar, der sich die Liebe als Hingabe für den Nächsten und für die Einheit der Menschheit zum Ziel gemacht hat. Er stellt das Gebet, die Eucharistie, die Betrachtung des verlassenen Christus in die Mitte ihres Zusammenlebens. Das Beispiel dieser ersten Fokolare verbreitete sich wie ein Feuer in der ganzen Welt.

Ich habe die Fokolarbewegung erst 1994 kennen gelernt, als ich nach Deutschland gekommen bin, um den orthodoxen Rumänen zu dienen. Es waren schwierige Zeiten. Nach dem Ende der Diktatur in Rumänien waren die rumänischen Christen, die im Westen lebten, durch ihre früheren Erfahrungen sehr verletzt und zerstritten. Alle diese  Probleme kamen natürlich über mich als Bischof. Noch dazu wurde ich konfrontiert mit materiellen Schwierigkeiten. Und genau in dieser Zeit großer seelischer Belastung hat mir Gott die Begegnung mit Prälat Dr. Albert Rauch geschenkt, der mich in das Ostkirchliche Institut in Regensburg aufgenommen hat. Hier habe ich einige Fokolare kennen gelernt.

Zunächst wusste ich nicht, dass sie dieser Bewegung angehören. Aber ich spürte in jeder Begegnung mit ihnen eine besondere Ausstrahlung, die mich innerlich entlastet hat. Ihre Liebe, ihr Mitleid, ihre Ermutigung, die sie mir erwiesen haben, werde ich nie vergessen. So habe ich erfahren, was die Fokolarbewegung darstellt. Und ich las regelmäßig das „Wort des Lebens“ von Chiara Lubich, das mich jedes Mal faszinierte und inspirierte. Später las ich auch einige Bücher von Chiara, die ich wie die Schriften der Heiligen Väter der Kirche betrachtet habe. Ich fragte mich, wie eine kirchliche Laiin, die nicht Theologie studiert hat, eine so große Erfahrung der Heiligen Schrift, der Tradition der Kirche, der Schriften der Heiligen Väter besitzen kann. Mir wurde klar, dass sie nicht erst aus dem Studium und dem Lesen, sondern aus ihrem Gebet und Leben in Christus, aus ihrer mitleidsvollen Liebe zu den Menschen ihr Wissen schöpfte. Sie lehrte wie „einer, der göttliche Vollmacht hat“ (Mk 1,21). So habe ich die Worte des Mönches Evagrius Ponticus aus dem 4. Jahrhundert verstanden, der sagte: „Theologe ist der, der wirklich betet und wer gut betet, ist ein Theologe.“

Theologie soll immer ein Ausdruck des Gebetes, des Lebens in Christus sein. Ich erinnere mich an einen Ausdruck des großen orthodoxen Theologen Sergej Bulgakow, der seine Dogmatikvorlesungen immer nur nach der Zelebration der Eucharistie mit seinen Studenten hielt. Er sagte: „Meine Vorlesungen sind eine Erklärung der Erfahrungen, die wir in der Eucharistiefeier gemacht haben. Ohne spirituelle Erfahrungen können wir keine Theologie betreiben.“

So ist die Theologie bei Chiara eine spirituelle Theologie oder kurz gesagt: eine Spiritualität, die zu den Herzen der Menschen spricht. Und während die akademische, rein intellektuelle Theologie ohne Spiritualität nie die Gläubigen einigen kann, führt die Spiritualität der Fokolarbewegung, die in den Herzen der Menschen wurzelt, zusammen. So spricht man mit Recht von einer Spiritualität der Einheit, weil die Liebe im Zentrum steht. Die Liebe übersteigt alle konfessionellen Grenzen, alle Spaltungen, alle Missverständnisse. Als Christen können wir nicht bis zur Einigung im Glauben warten, um uns zu lieben. Im Gegenteil: die Liebe führt zum Miteinander und zur Einigung im Glauben. Das hat Chiara Lubich sehr gut verstanden. Deshalb ist die Fokolarbewegung nicht konfessionell begrenzt. Die Fokolare verschiedener konfessioneller Traditionen leben zusammen mit Christus in der Mitte und stellen einen Vorgeschmack der ersehnten Einheit dar.

Was ich auch von Chiara gelernt habe, ist die Betrachtung Christi am Kreuz als dem Verlassenen. Das ist der Höhepunkt seines irdischen Lebens, als Er sich von allen, selbst von Seinem himmlischen Vater verlassen fühlte. Solche Erfahrungen kann jeder von uns machen. Wie oft fühlen wir uns machtlos, von allen verlassen, selbst vielleicht von Gott, orientierungslos, inmitten vieler Probleme. Genau in dieser Situation, in diesen Momenten sollen wir uns mit Christus identifizieren, damit wir von Ihm die Kraft erhalten, alles zu überwinden, zuerst in der Seele und danach allmählich auch in der Realität, weil Christus nicht am Kreuz geblieben, sondern alle Not überwunden hat und auferstanden ist.

Unser Leben vollzieht sich in einem beständigen Wechsel von „kleinen Toden und Auferstehungen“ bis zum Ende unseres irdischen Lebens. Das Wichtigste ist die beständige Verbindung mit Christus im Gebet, insbesondere in den Momenten des Leidens. Beim Gebet fühlen wir wie die Kraft der Auferstehung in uns eindringt und die Seele belebt.

Ein wesentlicher Aspekt der Spiritualität der Fokolarbewegung ist die Verinnerlichung, das Bewusstsein, dass Christus immer unter uns ist, die eigentliche Mitte in unserem Herzen als auch in den Beziehungen zwischen uns darstellt und dies führt zur Einheit. Diese Erfahrungen machen alle Fokolare in ihrem täglichen Leben und auch in der Mariapolis.

Solche Erfahrungen machen wir Bischöfe verschiedener Konfessionen, die der Fokolarbewegung nahe stehen. Wir treffen uns jedes Jahr für eine Woche, um die Spiritualität der Einheit mit Christus in der Mitte zu leben und zu vertiefen. Dabei nahm Chiara oft selbst als Gast teil oder lud uns ein. Bei jedem Treffen entsteht eine große Brüderlichkeit, bei der wir uns ganz eins fühlen und wir versuchen aus der uns geschenkten Kraft, diese Spiritualität in unseren Diözesen weiterzuverbreiten.

Ich bin Chiara und allen Fokolarinnen und Fokolaren in der Welt dankbar für ihr beispielhaftes Leben für die Einheit aller, für ihre Nächstenliebe. Ich sehe sie als Samenkörner, die in aller Welt verstreut sind, damit die Welt eines Tages ihre Einheit findet.

Gott nehme die Seele Seiner Dienerin Chiara in Seiner himmlischen Herrlichkeit auf.

Er möge ihre geistlichen Kinder segnen und auf ihrem weiteren Weg stärken.

Metropolit Serafim