Die Orthodoxie zwischen Tradition und Moderne (Zürich 16.05.2009)
Konferenz gehalten in Zürich 16.05.2009 an der Vollversammlung der Vereinigung „Glaube in der 2. Welt” und veröffentlicht in G2W 12/2009, ss. 16-19
Zunächst möchte ich für die Einladung danken, an der Vollversammlung der Vereinigung G2W teilzunehmen – dem „Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West“, auch für das Thema „Orthodoxie zwischen Tradition und Moderne“. Ich habe diese Einladung mit Freude empfangen und betrachte es als eine Ehre für mich, aber auch mit Bangen, die hohen Erwartungen der geschätzten Zuhörerschaft nicht zu enttäuschen. Ich bin kein Professor der Theologie, der viel liest, um Vorlesungen vorzubereiten oder Bücher und Aufsätze zu schreiben. Bitte erwarten Sie daher keinen Vortrag im Stile eines Professors, sondern mehr die Mitteilung einiger Gedanken und auch Schmerzen, die mich im Blick auf dieses Thema bewegen.
Durch meine Berufung zum Bischof soll ich dem Volk Gottes dienen und es unterweisen, allerdings nicht aus gelehrten Büchern, sondern aus meiner lebendigen Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott heraus. Als Bischof fühle ich mich nicht nur für das Bistum verantwortlich, in das die Kirche, der ich angehöre, mich berufen hat, sondern für die ganze Kirche Gottes, also für alles, was in der Kirche geschieht. Paul Evdokimov beschreibt die Verantwortung des Bischofs sinngemäß mit den Worten: auf der horizontalen Ebene beschränkt sich die Autorität des Bischofs auf sein Bistum; auf der vertikalen Ebene ist er Bischof für die ganze Kirche. Ich sage dies um zu unterstreichen, dass es dem Bischof nach dem Wesen seines Amtes aufgegeben ist, sich in den Dienst der ganzen Kirche zu stellen, vor allem wenn es um ihre Einheit geht oder um die großen Probleme der christlichen Welt. Genauso ist auch jeder Priester und jeder Gläubige aufgrund der Taufe für alles verantwortlich, was im lebendigen Inneren der Kirche als Leib des Herrn geschieht, jeder gemäß seiner Berufung. Sicher erfüllt jedes Glied der Kirche ob als Bischof oder als Priester oder Gläubiger je nach dem Maße seines eigenen bewussten Engagements in der Gemeinschaft der Kirche und gemäß seiner ureigenen Gaben diese Berufung zum Dienst und zur Verantwortung: einige sind besonders gesegnet zum Gebet, andere zur Askese, andere stellen sich ganz in den Dienst der Nächsten, andere erbauen die Kirche durch ihre Weisheit. „Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter: aber es ist ein Herr“ sagt der heilige Apostel Paulus (1. Kor. 12,4-5).
Nachdem ich 22. Jahren im Westen gelebt habe weiß ich, dass die Orthodoxie von vielen im Westen mit Sympathie betrachtet wird, vor allem wegen ihrer Spiritualität und der Schönheit der Ikonen. Die meisten aber ignorieren sie und sehen in ihr eine altmodische, konservative, ja rückwärtsgewandte, antiökumenische und antiwestliche Kirche.
Zum Aufkommen solcher Meinungen tragen leider auch einige Orthodoxe bei, die ein beinahe schon sektiererisches, vereinfachendes und rein egozentrisches Denken pflegen, das dem mystischen Geist der Orthodoxie gänzlich fremd ist, der von Ausgeglichenheit und Maß, auch vom Nicht-Urteilen über Andere geprägt ist, gerade auch dann, wenn du ihm Fehler aufzeigst. Nach diesem Denken hat Christus eine einzige Kirche gegründet, und das ist allein die Orthodoxe Kirche. Alle anderen Konfessionen haben nicht die erlösende Gnade Gottes, solange sie nicht zur Orthodoxen Kirche gehören. So sind alle Nicht-Orthodoxen Häretiker. Auch sind Orthodoxe, die Beziehungen zu Nicht-Orthodoxen pflegen, der Häresie verdächtig. Jene Orthodoxen, die so denken, haben eine Mentalität, die spezifisch ist für die Epochen des Konfessionalismus und der Religionskriege, weil sie in allen Nicht-Orthodoxen Kämpfer gegen die Orthodoxie sehen. Einige glauben sogar an eine weltweite Verschwörung gegen die Orthodoxe Kirche, ganz gewiss geleitet von der Freimaurerei oder von jenen, die der Welt eine neue Religion auferlegen wollen.
Ich glaube nicht, dass jemand von G2W die Orthodoxie mit solchen Zerrbildern identifiziert, welche diese Orthodoxen vermitteln, auch wenn wir auf den Seiten der Zeitschrift oft mehr oder weniger objektive Kritik an einigen Gegebenheiten der Orthodoxen Kirche oder ihrer Repräsentanten lesen können.
Unter Berücksichtigung des westlichen Kontextes, in dem wir uns bewegen und in dem die Orthodoxie weniger bekannt ist, erlaube ich mir, zu Beginn einen Abschnitt „Grundlegende Werte der Orthodoxie“ vorzustellen. Anschließend werde ich mich „Zur Rolle der Tradition in der Orthodoxie“ äußern, abschließend zum Thema „Die Orthodoxie und die Moderne“.
Grundlegende Werte der Orthodoxie
Ein naher Gott
Der orthodoxe Gläubige erlebt seine Vertrautheit mit Gott vor allem im Kultus der Kirche, besonders im reichen und an Symbolen gehaltvollen Ritual, im liturgischen Vokalgesang wie der ganzen Atmosphäre, die aus dem Sakralraum der mit Fresken und Ikonen geschmückten Kirche ausstrahlt, die eine wahre Bibel in Bildern ist. Sobald wir eine orthodoxe Kirche betreten, haben wir das Gefühl, dass wir in eine andere Welt eintauchen, dass wir in das Reich Gottes eintreten, welches die „Gemeinschaft der Heiligen“ ist. Und wir machen eine mystische Erfahrung: wir fühlen uns Gott nahe und beschirmt von Seinen Heiligen, die uns von allen Seiten umgeben.
Die „Gottesmutter Platytera“ mit dem Christuskind in der Apsis empfängt uns mit offenen Armen; der Erlöser Jesus Christus in der Darstellung des Pantokrators (Allherrschers und Allerhalters) segnet uns aus der Kuppel der Kirche; die Heiligen im Gebet und in der Prozession zum Heiligen Altar laden uns ein, zum „Ort unseres Herzens“ zu finden bzw. „unseren Verstand zum Herzen zu führen“, denn das Herz ist das „Allerheiligste“, der „Thron Gottes“. Die Fresken an den Kirchenwänden mit den Szenen aus dem Leben unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus vergegenwärtigen auf eine visuelle Weise die wichtigsten Ereignisse aus der Heilsgeschichte und lassen uns im Glauben real daran teilhaben.
Desweiteren symbolisiert die Architektur der Kirche mit ihren gerundeten Formen wie auch die Darstellung der „Himmlischen Liturgie“ in der Kuppel den „Himmel, der herabkommt“ und die Engel, die mit uns Gottesdienst feiern: „Die wir die Cherubim geheimnisvoll abbilden und die lebenschaffende Dreieinigkeit mit dem Hymnus ‚Dreimal Heilig‘ besingen“, so singen wir im „Cherubim-Hymnus“ der Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomos. Oder „Jetzt feiern die himmlischen Mächte mit uns, denn siehe: der Herr der Herrlichkeit kommt“, wie es im „Cherubim-Hymnus“ der Liturgie der Vorgeweihten Gaben heißt. Alles in einer orthodoxen Kirche ist auf das Gebet ausgerichtet, alles dient dem Gebet, der Verinnerlichung, der Kontemplation.
So nähert sich Gott dem Menschen, er wird spürbar in der Heiligen Kommunion, hörbar im Wort des Evangeliums, er wird sichtbar, fühlbar und durch Kuss verehrt in der Ikone, Sein Wohlgeruch umhüllt uns im Weihrauch, dem Symbol des Gebets, das sich an Ihn richtet: „Wie ein Rauchopfersteige mein Gebet vor Dir auf“ (Psalm 140,2/deutsche Zählung Psalm 141,2).
Der in der liturgischen Tradition seiner Kirche lebende orthodoxe Christ weiß, dass die Kirche durch ihr Gebet nicht nur das Leben der Menschen heiligt, sondern auch die natürliche Umwelt als Gottes Schöpfung. Daher bittet er den Priester um sein Gebet zur Segnung des Hauses, der Tiere, der Aussaat und der Ernte… So ist Gott omnipräsent mit Seinem Segen und wird von den Gläubigen auch so wahrgenommen.
Weil die Orthodoxie die Begegnung und Erfahrung mit einem so nahen und so menschlichen Gott vermittelt und weil in ihr alles dem Menschen gemäß ist, nach seinem Maßstab – der jedoch der Maßstab des Mensch gewordenen Gottes selbst ist – haben die großen lebendigen Zeugen der Orthodoxie bekräftigt, dass „die Orthodoxie das Wesen des Menschen selbst abbildet“, der zur Vergöttlichung gerufen ist, d. h. zur gänzlichen Vereinigung mit Gott in den göttlichen Energien.
Gerade die unverzichtbare Unterscheidung in Gott zwischen dem transzendenten und unerkennbaren göttlichen Sein und Wesen auf der einen Seite und den ungeschaffenen, aber spürbaren göttlichen Energien andererseits (die Gnade und alles Handeln Gottes in der Schöpfung), die uns mit Gott vereinen und uns vergöttlichen, hilft uns zu verstehen, wie Gott sein kann, nämlich gleichzeitig transzendent und immanent, jenseits von allem, was existiert, gleichzeitig aber gegenwärtig und dem Menschen und Seiner Schöpfung nahe, ohne sich mit ihr zu vermischen wie im Pantheismus.
Ein liturgisches und mystisches Christentum
Alle Welt stimmt der Ansicht zu, dass die Orthodoxie besonders herausragend in ihrer Spiritualität ist, d. h. durch ihren reichen Schatz an Glauben und geistlichem, liturgischem und mystischem Leben. Die Orthodoxe Kirche ist besonders eine Kirche des Gebets und der liturgischen Feier. Über Jahrhunderte hat unsere Kirche die türkische und dann die kommunistische Herrschaft dank ihrer Gottesdienste überlebt. Die Orthodoxie weiß, dass Gott die Erlösung der Menschen durch die Heiligen Sakramente und das Gebet der Kirche schenkt, durch welches die Fleischwerdung des Herrn und alle Sein erlösendes Wirken unaufhörlich fortgesetzt und vergegenwärtigt wird. Der Glaube wird also in den Sakramenten und im Kultus der Kirche gelebt und ausgedrückt. Der heilige Cyprian von Karthago sagt sogar, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt.
Deshalb ist die Theologie als eine Funktion der Kirche grundsätzlich eine Theologie der Erfahrung; sie wurzelt und inspiriert sich konstant im liturgischen Leben der Kirche. Von Anfang an galt in der Kirche das Prinzip „Lex orandi, lex credendi“ – Das Gebot des Gebets ist das Gebot des Glaubens. Schon im zweiten Jahrhundert sagte der heilige Irenäus von Lyon: „Unser Glauben entspricht der Eucharistie und die Eucharistie bestatigt den Glauben“ (Adv. Haer. IV, 18). Evagrios Pontikos (4. Jh.) identifizierte den Theologen mit dem, der betet: „Wenn du Theologe bist, wirst du wahrhaft beten; und wenn du wahrhaftig betest, bist du Theologe“ (Über das Gebet, 61). Wahrhaftig zu beten heißt, dein ganzes Wesen ins Gebet einzubringen: Leib, Seele und Geist. Das wahre Gebet, von dem alle geistlichen asketischen Väter stets sprechen, ist das mit dem Herz vereinte Gebet des Verstandes. Es entzieht sich sowohl der Versuchung, sich auf den Intellekt zu reduzieren, als auch der Versuchung der sentimentalen Gefühlsduselei, weil nach den heiligen Vätern der Intellekt nichts anderes ist als eine Energie des Herzens und die falsche Sentimentalität dort ausgeschlossen ist, wo das Gebet auch einen theologischen Inhalt hat. Hier sei darauf hingewiesen, dass die Orthodoxe Kirche in ihrem Kult alle Dogmen der Ökumenischen Konzile aufgenommen hat.
Folglich richtet sich das Gebet an das Herz als Mitte aller psycho-physischen Kräfte der Person, die es in ihrer ontologischen Einheit mit der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung wiederherstellt. Für den wahrhaft betenden Gläubigen sind seine Nächsten nicht nur von ihm getrennte Individuen, sondern Personen in Gemeinschaft, die er neu als Glieder seiner selbst wahrnimmt. „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied“, sagt der heilige Apostel Paulus (1. Kor. 12, 27). Die Schöpfung selbst erneuert sich im Herzen des Menschen, das nach den heiligen Kirchenvätern ein Mikrokosmos ist.
Das Eucharistische Hochgebet im Rahmen der Liturgie ist das große Gebet der Kirche, welches die Kirche konstituiert. Die Liturgie wird von den orthodoxen Gläubigen als „Himmel auf Erden“ erlebt, bei dem Gott herabsteigt, was in der Darstellung von Christus als Pantokrator und der Himmlischen Liturgie in der Kuppel der Kirche symbolisiert wird und in den eucharistischen Gaben real gegenwärtig ist, die Leib und Blut Christi sind. Christos Yannaras sagt über die Liturgie und den Kult der Kirche, dass sie der höchste Ausdruck der menschlichen Schöpfung sind, von allem, was der Mensch zu seiner eigenen Kultivierung schaffen konnte. Tatsächlich kultiviert den Menschen nichts mehr als das Gebet und der Gottesdienst der Kirche.
Weil sie mystisch ist, hat die Orthodoxie einen großen Respekt vor dem Mysterium des Glaubens (dem Sakrament) und versucht nicht, dieses rational zu erklären, weil sie es so deformieren und sogar auflösen würde. Sondern sie lässt das Geheimnis des Glaubens sich selbst im Akt der Anbetung offenbaren. Das Geheimnis des Glaubens ist also ein Gegenstand des Glaubens und der Verehrung, nicht der intellektuellen Spekulation. Der Glaube selbst bedeutet sogar die „Kreuzigung der Vernunft“ und das bescheidene Akzeptieren des Geheimnisses. Gerade in einer zu sehr intellektualisierten Welt wie der unseren, die das Geheimnis aufgelöst hat und an nichts mehr glaubt, weil sie eben die „Vernunft nicht kreuzigen kann“, erscheint mir die orthodoxe Spiritualität und die Mystik in besonderer Weise als extrem wichtig und sogar heilsbringend. Denn der Mensch kann nicht ohne Glauben und ohne Geheimnis leben. Ein Beweis dafür ist die Suche vieler heutiger Christen nach Mystik in fernöstlichen Religionen.
Gerade aus Respekt vor dem Geheimnis des Glaubens haben die heiligen Kirchenväter es vermieden, der Versuchung zu verfallen, den Glauben in intellektuelle Konzepte zu fassen. Einerseits ist jede rationale Aussage über Gott in sich selbst eine Begrenzung wie alles, was menschlich ist, andererseits können die Dogmen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten verschieden interpretiert werden. Die Geschichte zeigt uns, wie einige dogmatische Festlegungen der Sieben Ökumenischen Konzile, die zur Bekämpfung verschiedener Häresien getroffen wurden, zu Schismen und falschen Interpretationen geführt haben, unter denen die Kirche bis heute leidet.
Ein asketisches Christentum
Die orthodoxe Spiritualität hat die Askese zum dominanten Wesenszug, den Kampf gegen die Leidenschaften durch das Gebet, durch Enthaltsamkeit, durch Ernsthaftigkeit in allem, durch die Infragestellung des eigenen Willens und das Hören auf einen geistlichen Vater. All dies mit dem Ziel, die Liebe zu erlangen, durch die wir uns Gott angleichen. Zu den großen Heiligen der Kirche gehören auch die sogenannten asketischen Väter, die uns eine Reihe von Schriften zum geistlichen Leben hinterlassen haben, zu der Frage also, wie wir uns läutern können, wie wir zur Erleuchtung und zur Vollendung kommen. Ein Teil dieser asketisch-mystischen Schriften wurden in der berühmten Sammlung der „Philokalia“ – das bedeutet „Liebe zum Schönen“ – des heiligen Nikodemos vom heiligen Berg Athos 1782 in Venedig veröffentlicht. Heute ist die Philokalie in zahlreiche Sprachen übersetzt und veröffentlicht.
Die asketische Väter erweisen sich in diesen Schriften als exzellente Kenner der menschlichen Psyche. Sie setzen bei ihrer eigenen Erfahrung des Kampfes gegen die Dämonen und Leidenschaften ein, die den Geist verdunkeln und pervertieren, das Herz verhärten, den Willen schwächen und den Leib schädigen, indem sie den Menschen in seine eigene Welt einschließen, in die die Liebe zu Gott und zu den Nächsten nicht mehr eindringen kann. Sie erweisen sich als wahre Realisten in ihrem manchmal extrem harten Urteil über die Leidenschaften und die Askese, die im Kampf gegen die Leidenschaften notwendig ist. Dabei wussten die Väter sehr genau, dass die Erlösung ein Geschenk der Gnade Gottes ist und infolgedessen alles aus Gnade kommt, „sola gratia“. Doch sie wissen genauso, dass die Gnade der Mitwirkung des Menschen bedarf, seines eigenen Bemühens um einen lebendigen Glauben und die Heiligung seines Lebens: „Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr meidet die Unzucht“ (1. Thess. 4,3). Um sinngemäß mit Bonhoeffer zu sprechen: „die Gnade wird bezahlt“. Dies kommt in der Maxime zum Ausdruck: „Gib dein Blut, um den Geist zu empfangen“. Dieser Satz ist nicht nur aus der eigenen Erfahrung dieser Väter, sondern auch aus der Heiligen Schrift inspiriert. Denn was war das Leben und Wirken des Herrn denn anderes als ein fortwährendes Opfer zur Erlösung und zur Vergebung der Schuld der Welt. Ein einmaliges und Heil bringendes Opfer, mit dem sich die Propheten, die Gottesmutter, der heilige Johannes der Täufer, die Apostel… und alle Märtyrer und Heiligen der Kirche verbinden. Daher sagte der Erlöser: „Aber von den Tagen des Johannes des Täufers bis heute leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es an sich.“ (Mt. 11,12) Und der heilige Apostel Paulus ermutigt uns: „Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde…“ (Hebräer 12,4).
In der Philokalie und anderen asketischen Schriften finden wir eine detaillierte Beschreibung jeder Leidenschaft und der Art und Weise, wie wir durch Askese und Pflege der dieser jeweiligen Leidenschaft entgegengesetzten Tugend zur Befreiung davon ankämpfen können. Denn die Leidenschaft lähmt unseren Willen, Gutes zu tun, und reduziert uns auf die Sklaverei (Joh 8,34), während die Tugend den Willen stärkt und uns dazu bringt, uns der „Freiheit der Kinder Gottes“ zu erfreuen. Sicher steht am Anfang einer jeden Leidenschaft ein böser Geist, der uns verführt und gegen den wir kämpfen müssen. „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“ (Eph 6,12) Diese „Geister“ arbeiten durch die Sinne des Menschen und zielen besonders auf das Herz, den Ort, in dem sich wie in einem Fokus unser ganzes Wesen und alle seine psycho-physischen Kräfte konzentrieren. Gleichzeitig ist das Herz die Stätte, wo die Taufgnade wohnt, aber auch der „unsichtbare geistliche Kampf“ gegen die bösen Geister sich abspielt, „denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. Alle dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein.“ (Markus 7,21-23)
Daher muss unsere ganze Aufmerksamkeit auf das Herz gelenkt werden auf der Hut vor den unreinen Gedanken, die ins Herz eindringen wollen. Denn jede Sünde beginnt mit einem bösen Gedanken, der das Herz verschmutzt, wenn er erst einmal akzeptiert ist. Er wird dann vom Gedanken in die Tat umgesetzt. Wenn aber eine sündhafte Tat sich wiederholt, dann wird sie zur Leidenschaft. Häufiges und unablässiges Beten ganz im Sinne der Aufforderung des Apostels Paulus – „Betet ohne Unterlass!“ (1. Thess 5,17) – vereint mit Fasten nach der kirchlichen Tradition und einem stets maßvollen Leben in ständiger Verbindung mit den heiligen Sakramenten der Kirche hilft dem Geist, immer wachsam und auf der Hut zu sein, böse Gedanken nicht zu akzeptieren und immer in einer engen Verbindung mit dem Herzen zu bleiben.
Wie schon gesagt, ist der Geist (der Verstand) eine Energie des Herzens, der die Vielzahl der Gedanken, die das Herz quälen und stressen, nicht kontrollieren und stoppen kann, außer es gelingt dem Geist, ins Herz hinabzusteigen. Wenn der Geist sich auf diese Weise mit dem Herzen vereint, dann erfreut sich der Mensch des „Seelenfriedens“, des seelischen Gleichgewichts, das so wichtig ist für unser Leben. Das untrügliche Zeichen, dass wir zum „Seelenfrieden“ gelangt sind, ist das „Fühlen des Herzens“, das gleichbedeutend ist mit dem „Fühlen Gottes“, wie der heilige Diadochos von Photike gesagt hat (4. Jh.), dem Verspüren der Taufgnade. (Das Gegenteil des Spürens des Herzens ist die Verhärtung des Herzens oder das erkaltete Herz.)
Von diesem Moment der Befreiung an kann die Gnade frei im Menschen wirken. Sie erfüllt das Herz des Menschen mit der Wärme der Liebe, die man zuerst in der Brust und dann im ganzen Körper verspürt. Es ist die Wärme der Liebe zu Gott, zu den Menschen und zur ganzen Schöpfung, denn in diesem Zustand hat das Herz seine ontologische Einheit mit dem Universum und der ganzen Schöpfung wiedererlangt. Alles Geschaffene lebt in einem reinen, von Sünden und Leidenschaften befreiten Herzen! Der Gläubige, der zu diesem Seelenfrieden als Gabe Gottes gelangt ist, wirkt erleuchtet, sanftmütig, gut, mitleidsvoll, leicht vergebungsbereit, in allem ausgeglichen. Er betet unter Tränen zu Gott für die Menschen, auch für böse Menschen und Gegner der Wahrheit und jene, die ihn immerzu ärgern… Er betet um Segen und Vergebung für die ganze Schöpfung (wie der heilige Isaak der Syrer sagt). Auch wenn sie viel Anstrengung und Bemühen verlangt, so ist die orthodoxe Spiritualität letztlich eine Spiritualität des Lichts, der Auferstehung und der Gemeinschaft als Ergebnis des Wirkens des Heiligen Geistes und des persönlichen Glaubenseifers.
Wir sollten noch ergänzen, dass das Fasten und überhaupt die von der orthodoxen Tradition empfohlene Askese die einzige Antwort ist, die auf die Konsumgesellschaft, in der wir leben, gegeben werden kann. Die Konsumgesellschaft ist eine „Diktatur ohne Diktator“, wie es Andrea Riccardi einmal formulierte, die nur vom asketischen Geist der Christen überwunden werden kann.
Ein „evangelisches“ Christentum
Im Allgemeinen wird angenommen, dass die Bibel oder das Wort Gottes im Kultus der Orthodoxen Kirche und überhaupt im Leben des orthodoxen Christen wenig präsent ist. Es stimmt zweifellos, dass es mit Ausnahme der Psalmen, der Episteln und Evangelienlesungen im orthodoxen Kultus nicht viele weitere biblische Lesungen gibt, auch wenn der orthodoxe Gottesdienst per se biblisch inspiriert ist. Wir könnten sogar sagen, dass der gesamte orthodoxe Gottesdienst, den eine unvergleichliche Tiefe und Schönheit kennzeichnen, eine Bibel in Hymnen und Gebeten darstellt. Karl Christian Felmy, Erich Bryner und Fairy von Lilienfeld haben in ihrer kommentierten Ausgabe der Göttlichen Liturgie im Einzelnen nachgewiesen und dokumentiert, in welchem großen Maße die einzelnen Stücke des orthodoxen Gottesdienstes sich auf biblische Texte, Berichte und Aussagen beziehen und den profund biblischen Charakter der Liturgie herausgearbeitet. Der orthodoxe Gläubige „lebt“ die Bibel im Gottesdienst und der Spiritualität der Kirche. Wenn auch die Orthodoxe Kirche die Lektüre der Bibel jedem einzelnen Christen nahelegt und empfiehlt, so bleibt jedoch die Interpretation der Schrift eine Aufgabe der Kirche.
Wer die Orthodoxie „von innen“ kennt, aus der Erfahrung ihres Glaubenslebens heraus, dem ist klar, dass ihr Geist der Geist des Evangeliums selbst ist, d.h. der Geist der Einfachheit, der Demut, des Gehorsams, der unablässigen Buße, des Opfers… Das Neue Testament stellt uns das christliche Leben als „Nachfolge Christi“ vor Augen (Lukas 9,23) oder als „Nachahmung Christi“ (vgl. Lukas 11,29; 1. Kor. 4,10; 11,1). Im Abendland hat das Buch „De imitatione Christi“ von Thomas a Kempis aus dem 15. Jahrhundert eine große Rolle in der Volksfrömmigkeit gespielt. Die Orthodoxen der Ostkirche ziehen es vor, vom „Leben in Christus“ und dem „Leben im Heiligen Geist“ zu sprechen, um den ontologischen Charakter der Vereinigung mit Christus bis hin zur Identifikation mit Ihm zu unterstreichen. Nikolaos Kabasilas, ein Laientheologe im 14. Jahrhundert, schrieb das Buch „Vom Leben in Christus“, welches im Christlichen Osten dieselbe Erfolgsgeschichte erlebte wie „De imitatione Christi“ im Westen. Der Sinn des Lebens in Christus ist der, mit Christus eins zu werden, „ein Geist mit ihm“ (vgl. 1. Kor. 6, 17), oder wie der Apostel an die Epheser schreibt: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“ (Phil. 1,21) Oder: „Wir aber haben Christi Sinn.“ (1. Kor. 2, 16). Oder: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht“ (Phil. 2,5). Dies sind besonders wichtige Aussagen für die orthodoxe Spiritualität.
„Das Leben in Christus“ ist weder statisch, noch außerhalb des Leibes oder der Gesellschaft zu verstehen, in der wir leben. So sieht die Orthodoxie im Menschen eine unzerstörbare Einheit aus Leib, Seele und Geist. Der ganze Mensch ist zur Heiligung gerufen: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt…“ (1. Thess. 5,23) Daher zielen die Askese und alle anderen Mittel der Heiligung auf den ganzen Menschen als Medium in der Umwelt, in der er lebt. Das christliche Leben ist ein kontinuierlicher Prozess des geistlichen Wachsens und Reifens „bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi“ (Eph. 4,13). Dieses Leben beginnt mit der Taufe, durch die wir Glieder am Leibe Christi werden, also der Kirche (vgl. 1. Kor. 12,27; Eph. 1,22-23), und es vervollkommnt sich allmählich durch die Synergie zwischen der Gnade des Heiligen Geistes, der in den heiligen Sakramenten über den Gläubigen ausgeschüttet wird, besonders durch die Eucharistie, und dem persönlichen Bemühen um Heiligung.
Der heilige Apostel Paulus vergleicht das christliche Leben mit dem Wettkampf der Sportler in der Arena, die um den Siegespreis kämpfen. Dieser geistliche Wettkampf läuft nach präzisen Regeln moralischen Verhaltens ab, die wir in der Heiligen Schrift finden, beginnend mit dem „Gesetz“ vom Sinai, also den Zehn Geboten, die in der Bergpredigt zu ihrer Vollendung kommen, über die zahllosen Weisungen und Empfehlungen der Propheten, des Erlösers Selbst und der heiligen Apostel. All diese moralischen Regeln und Weisungen helfen dem Gläubigen zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und vor allem sich der Sünde zu enthalten oder sich davon sogar zu befreien. Denn jeder, der sündigt, ist Knecht der Sünde (Joh. 8, 34), aber „der Tod ist der Sünde Sold“ (Röm 6,23).
Für orthodoxe Christen besitzt das Wort Gottes der Heiligen Schrift eine normative Bedeutung für die Gegenwart, es altert nicht, es kommt nicht außer Mode, auch wenn einige Menschen dies anders sehen. Genau deshalb macht die Orthodoxie keinen Kompromiss mit der Sünde, auch wenn sie das größte Verständnis für das Unvermögen des Menschen hat. Die Orthodoxie verurteilt die Sünde, aber nicht den Sünder. Die Orthodoxie will dem Sünder helfen, die Sünde zu überwinden und zu besiegen, die eine wirkliche seelische Krankheit ist. Je mehr Sündenbewusstsein der Gläubige hat, umso mehr nehmen in ihm die Reue und die Demut zu, also die Nähe zu Gott. Ein laxes Gewissen, das nicht klar zwischen Gut und Böse, zwischen Tugend und Sünde unterscheidet, entfernt den Menschen nicht nur von Gott, sondern von sich selbst.
Die Kirche kann sich nicht an den „Zeitgeist“ anpassen. Sie wird immer im Gegensatz zum Geist der diesseitigen gefallenen Welt stehen, um ihr zu helfen, erlöst zu werden.
Die Orthodoxie und die Tradition
Die Orthodoxe Kirche lebt in dem Bewusstsein, dass sie die Kirche Gottes ist, „die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche“, und als Konsequenz daraus die historische Fortführung der Ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausends ist. Die Kirche identifiziert sich mit Christus, sie ist „der Leib Christi“: Christus ist das Haupt, und die Kirche stellt die Glieder an diesem Leib dar. Zwischen dem Haupt und den Gliedern gibt es nicht die geringste Trennung, sagt Johannes Chrysostomos. Die Kirche ist als solche von einer divino-humanen Natur.
„Jesus Christus – gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit!“ (Hebr. 13,8). In ihrer göttlichen Wirklichkeit als Quelle ihrer Glaubens- und Morallehre ist die Kirche unveränderlich, auch wenn diese Lehren zu ihrem besseren Verständnis und Befolgen erklärt und weiter vertieft werden können. Der Mensch selbst hat eine ewige Berufung als „Ebenbild“ Gottes. Auch wenn die Bedingungen seiner Existenz im Laufe der Geschichte wechseln, so bleiben doch die existenziellen Notwendigkeiten des menschlichen Lebens gleich: der Mensch braucht in leiblicher Hinsicht Nahrung, Kleidung und Fortpflanzung, in geistlicher Hinsicht ein Streben nach Gott, seinem „Prototypen“, in Gebet und Askese, durch Gemeinschaft mit seinen Nächsten, durch Respekt vor den Naturgesetzen und den Geboten der Religion.
Die Orthodoxie ist eine Kirche der Tradition in dem Sinne, dass sie in großer Treue den Schatz des Glaubens aus den ersten christlichen Jahrhunderten bewahrt, als der christliche Gottesdienst sich herausgebildet hat und durch die Ökumenischen Konzile die grundlegenden Wahrheiten des christlichen Glaubens festgehalten wurden. Die Tradition ist das Leben der Kirche selbst, die Art und Weise, in der die Kirche Christus nachfolgt und sich mit Ihm in Seinem Wort vereint, durch die Ikonen, durch die heiligen Sakramente und die Gottesdienste, durch die sieben Tagzeitengebete, durch das persönliche Gebet und die Askese und den Dienst an den Nächsten, d. h. durch Engagement in der Gesellschaft.
Zur Heiligen Tradition gehören die in der Heiligen Schrift geoffenbarten Glaubenswahrheiten, die von der Kirche formulierten Glaubensbekenntnisse, die dogmatischen Entscheidungen der Ökumenischen Konzile und einiger Lokalsynoden. All dies bildet den Glaubensschatz der Kirche, der nicht verändert werden kann, sondern nur jeweils expliziter und vertiefter zum Ausdruck gebracht werden kann. Genauso gehören zur Heiligen Tradition die Normen des moralischen Verhaltens als praktischer Ausdruck des Glaubens oder als Übersetzung des Glaubensbekenntnisses in das alltägliche Leben der Christen. Denn ein Glaube, der nicht ein moralisches Ethos gebiert, ist nichtig und hat keinen Wert.
Die Orthodoxie betrachtet die Schrift selbst als Teil der Heiligen Tradition. Sowohl die Heilige Schrift, als auch die Heilige Tradition sind Quellen der göttlichen Offenbarung. Beide sind normativ und haben verbindlichen Charakter. Das Wort Gottes kann nicht losgelöst werden von seinem kirchlichen beziehungsweise liturgischen Kontext. Wenn ein Gläubiger die Heilige Schrift liest, dann liest er sie nicht als isoliertes Individuum, losgelöst vom kirchlichen Umfeld, sondern gerade in seiner Eigenschaft als Glied des lebendigen Organismus der Kirche. Der Christ, der ein wirkliches kirchliches Bewusstsein hat, der selbst ein kirchliches Wesen geworden ist, „verkirchlicht“ alles in seinem Umfeld: die Familie, die Gesellschaft, die Natur… Denn die Kirche birgt in sich potenziell die ganze Menschheit und den ganzen Kosmos.
Gewiss müssen wir zwischen der Tradition als Schatz des Glaubens der Kirche und den verschiedenen liturgischen, kanonischen und monastischen Traditionen als praktische Ausdrucksformen des Glaubens unterscheiden. Diese können von Epoche zu Epoche unterschiedliche und verschiedene Formen haben, die jedoch mit der Wahrheit des geoffenbarten Glaubens konform gehen müssen.
Was das Priesteramt des Mannes betrifft, so gewinnt die Praxis des Alten und Neuen Testaments wie auch die Tradition des Ersten Jahrtausends die Bedeutung einer Glaubenswahrheit. Die Orthodoxe Kirche erkennt wie auch die Katholische Kirche in der Auswahl der zwölf Apostel und ihrer Nachfolger, die alle Männer waren wie Christus selbst, nichts Zeitgebundenes, sondern ganz im Gegenteil den ausdrücklichen Willen zur Weihe von Männern für das Priesteramt. Das Christentum hat die Welt gerade dadurch revolutioniert, dass es sich nie dem Zeitgeist angepasst hat. In einer Umwelt, in der die Frauen überhaupt keinen Rechtsstatus hatten, hat die Kirche die Frauen immer als gleichwertig behandelt, auch wenn sie nicht zum priesterlichen Dienst berufen wurden. In der Kirche gibt es auch noch andere Dienste, die genauso wichtig sind wie der Dienst des Priesters und zu denen auch Frauen berufen sind wie etwa der diakonische Dienst (im ersten Jahrhundert gab es geweihte Frauen als Diakoninnen) oder der Unterricht… Denken wir nur an die Rolle der Frau bei der Vermittlung des Glaubens in der Familie wie auch zum Erhalt der Kirche, vor allem in Zeiten religiöser Verfolgung.
So können wir als Fazit festhalten: die Tradition stellt in der Kirche das Element der Kontinuität und der Identität zwischen Vergangenheit und Zukunft dar. Sie verankert die Kirche in der Ewigkeit und hindert sie daran, sich im Zeitlichen zu verlieren oder sich auf das Zeitliche zu beschränken. Sie gibt der Kirche die Kraft, Zeit und Welt zu transfigurieren.
Die Orthodoxie und die Moderne
Für mich bedeutet „Moderne“ die Welt in ihrer Entwicklung, in ihrer ständigen Veränderung. In diesem Sinne ist die Welt immer modern im Verhältnis zur Vergangenheit. Zwischen der Tradition der Kirche als einer Wirklichkeit von historischer Kontinuität und der Welt in ständiger Veränderung besteht eine schöpferische Spannung, solange sich die Kirche und die Welt nicht voneinander abkapseln, sondern miteinander kooperieren und wechselseitig befruchten. Natürlich ist die Kirche gerufen, die Welt zur Erlösung und zur Heiligung zu führen und sie durch ihr Zeugnis von einem anderen Leben zu verwandeln, das sich nicht in den Horizont dieses Lebens einschließt, sondern sich der Ewigkeit öffnet. Die Menschen brauchen lebendige Beispiele, Christen, die dieses neue Leben wirklich vorleben, das Christus der Welt geschenkt hat und die so beweisen, „dass das Christentum nicht eine Religion unter anderen Religionen ist, dass es nicht einmal eine Religion an sich ist, sondern eine Krise aller Religionen“ (Olivier Clément). Tatsächlich ist das Christentum nicht nur eine Religion als Summe von Glaubenssätzen, sondern ein neues Leben. Wenn das Zeugnis der Kirche in der Welt abnimmt, säkularisiert sich die Welt und entfremdet sich von der Kirche. Wir erleben heute einen solchen Säkularisierungsprozeß von nie da gewesenem Ausmaß in der Geschichte der Kirche, weil das Christentum in großem Maße seine Kraft zum Zeugnis verloren hat und fast verwechselbar geworden ist mit der Welt.
In welchem Maße die Orthodoxe Kirche in diesem Säkularisierungsprozeß standhält ist schwer zu sagen. Leider sind viele orthodoxe Theologen aufgrund ihrer triumphalistischen Sicht der Orthodoxie nicht imstande zu erkennen, dass nicht nur die anderen Kirchen von diesem Geist der Säkularisierung erfaßt sind, sondern wie stark die Orthodoxe Kirche selbst davon betroffen ist. So haben sich zum Beispiel in Rumänien bei den Volkszählungen von 1992 und 2002 87 Prozent der Bevölkerung als orthodox erklärt und nur 0,1 Prozent als atheistisch. Trotzdem übersteigt der Gottesdienstbesuch am Sonntag in den Städten keine 5 Prozent und in den Dörfern erreicht er nur 15 bis 20 Prozent. Ich glaube nicht, dass dies in den anderen mehrheitlich orthodoxen Ländern besser ist. So besteht auch die Mehrheit der orthodoxen Christen heute nur noch aus Namenschristen, auch wenn sie ganz der Tradition entsprechend ihre Kinder taufen und sich christlich trauen lassen und ihre Toten christlich beerdigen. Ein großer Geistlicher unserer Kirche, Vater Archimandrit Teofil vom Kloster Brâncoveanu – Sâmbăta de Sus (zwischen Hermannstadt und Kronstadt) sagt dazu sehr treffend: „Die meisten Menschen leben sozial in der Religion, aber nicht religiös in der Gesellschaft“.
Doch das Schlimmste ist, dass der „Geist der Zeit“ auch bei den Dienern der Kirche und sogar im Mönchtum Einzug gehalten hat, die doch als Erste gerufen sind, ein lebendiges Zeugnis von ihrem Glauben abzulegen. Die theologischen Ausbildungsstätten selbst unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht nicht von weltlichen Schulen. Der Unterricht ist scholastic und wenig geistlich geprägt, so dass er nicht mehr in der Lage ist, wirkliche Priester aus Berufung heranzubilden, die sich ihrer Mission voll hingeben. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch Priester aus Berufung gibt. Doch diese formen sich eher im Umfeld eines großen Geistlichen, als in den Hörsälen der Theologie. Auch der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen führt nicht zu den erwarteten Ergebnissen, weil es keine wirkliche Zusammenarbeit zwischen Schule und Kirche gibt. Das religiöse Wissen, das sich der Schüler an der Schule aneignet, führt nicht zu einer Glaubenserweckung des Schülers, wenn nicht die Kirche dies mit einer tiefen geistlichen Mission unterstützt. Was die Orthodoxe Kirche in Rumänien betrifft, so hat unser Patriarch Daniel bereits mehrere Programme der Zusammenarbeit zwischen Schule und Kirche initiiert.
Wir müssen trotzdem erkennen, dass die orthodoxe Kirche auch aufgrund einer unglücklichen Geschichte in großem Maße ihren missionarischen Geist außerhalb des Gotteshauses verloren hat. Ihre Mission beschränkt sich häufig auf das Feiern der Gottesdienste. Es stimmt natürlich, dass die Gottesdienste der Kirche per se katechetisch sind und jede Katechese darin beginnen und enden muss, die Gottesdienste vertieft zu leben. Von Anfang der Kirche an war die Katechese von mystagogischer Art, sie hat mit ihrer „Erklärung“ des Glaubens beim christlichen Gottesdienst begonnen. Denn niemand kann sich außerhalb der Kirche geistlich formen ohne regelmäßige Teilnahme an ihren Gottesdiensten. Über Jahrhunderte wurde der Glaube in den meisten orthodoxen Landeskirchen nur durch die Teilnahme an den Gottesdiensten der Kirche weitervermittelt, die jedoch in einer für die meisten unverständlichen Sprache gehalten wurden. Für unsere Vorfahren war nicht so sehr das intellektuelle, sondern das geistliche Verstehen des Gottesdienstes wichtig. Der moderne und an sich rational geprägte Mensch will zunächst verstehen, um dann eine geistliche Erfahrung machen zu können. Und die Kirche hat die Pflicht, den Menschen entgegenzukommen und den Zugang zum Verständnis des Gottesdienstes zu erleichtern, in erster Linie durch Gebrauch der Muttersprache im Kultus, die von allen Gläubigen verstanden wird. Außerdem durch eine konstante liturgische Katechese, damit der Gläubige auf möglichst bewusste Weise an den Gottesdiensten der Kirche teilnimmt. Genau daher spüren wir auch heute wieder verstärkt die Notwendigkeit, dass die eucharistische Liturgie besser erklärt wird, auch durch die Rückkehr zur liturgischen Praxis der ersten Jahrhunderte, als das eucharistische Hochgebet laut gesprochen wurde. Nur so verstehen die Gläubigen den Inhalt der Liturgie und können die Weihe der eucharistischen Gaben mit ihrem „Amen“ bestätigen. Genauso muss zur Praxis des regelmäßigen Empfangs der Heiligen Kommunion zurückgekehrt werden, wenn keine schweren Sünden vorliegen, die den Gläubigen von der Gemeinschaft der Kirche trennen. Sonst wird die Liturgie von ihrem grundsätzlichen Charakter des Opfers und der Mahlgemeinschaft verfremdet. Auch stellt sich das Problem des Kalenders, der die Orthodoxen selbst die fixen Feiertage zu unterschiedlichen Tagen feiern lässt! All das verlangt nach einer liturgischen Erneuerung, die leider keine orthodoxe Landeskirche bisher angeht, aus Angst vor Spaltungen in ihrem Inneren.
Ich glaube, dass solche Schismen gerade aus einem Mangel an Katechese erwachsen, die dazu führt, dass die Gläubigen sich auf übersteigerte Weise an bestimmte Formen zum Nachteil des Inhalts binden. „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig!“
Ein anderes großes Problem im Blick auf den Gottesdienst, der das Herzstück der Orthodoxie bildet, stellt die Gefahr des Formalismus und der übertriebenen äußerlichen Feierlichkeit dar. Es ist wahr, dass die Schönheit des Gottesdienstes auch im reichen und symbolträchtigen liturgischen Ritual begründet liegt, das jedoch zur Verinnerlichung führen muss und nicht zu einer ausufernden Achtsamkeit nur auf äußere Dinge. Der Liturg, und zwar er als erster, muss jedes Gebet und jede liturgische Geste verinnerlichen und sich darum sorgen, dass auch die Gläubigen dies tun können. Sonst schenkt des Gebet keine geistliche Nahrung und schenkt weder Trost noch Erbauung.
Es ist ein Anlass zur Freude, dass die Kirche heute alle Mittel und Möglichkeiten der Massenmedien bei ihrer Mission nutzen kann. In Rumänien hat die Orthodoxe Kirche auch durch das unablässige Bemühen unseres Patriarchen Daniel einen eigenen Radio- und Fernsehsender und eine eigene Tageszeitung. Die Sendungen dieses Senders erreichen hohe Einschaltquoten und werden von den Gläubigen mit großem Interesse verfolgt. Trotzdem kann die persönliche Mission des Priesters von keinem anderen Medium übernommen werden.
Zum Glück ist unsere Orthodoxe Kirche nicht mit einem Mangel an Berufungen zum Priesteramt konfrontiert. Allerdings ist die theologische und geistliche Ausbildung in unseren Seminaren und Hochschulen völlig unzureichend, weil diese nicht Priester mit wirklich geistlichem und missionarischem Habitus formen, sondern vor allem akademische Spezialisten in Theologie. Aber nicht Theologie als „Wissenschaft“ von Gebet und Frömmigkeit, wie es der Orthodoxie entspricht, sondern als eine abstrakte Wissenschaft in konfessionalistischer Verengung. Bei der Wahl Seiner Seligkeit Daniel zum Patriarchen vor nunmehr zwei Jahren haben sehr viele die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass nur ein großer Theologe wie Patriarch Daniel die theologische Ausbildung in Rumänien wieder auf ihre traditionelle Linie bringen kann.
Doch neben einer Erneuerung der theologischen Ausbildung in Rumänien brauchen wir noch eine wirkliche Reform der administrativen Strukturen der Kirche, um dem Bischof zu ermöglichen, eine auch geistliche normale Beziehung zu seinen Priestern zu pflegen. In den gegenwärtigen Strukturen unserer Kirche mit Bistümern, zu denen zwischen 300 und 1200 Kirchengemeinden gehören ist der Bischof gezwungen, sein Wirken auf die Verwaltung und Dinge wie den Bau von Kirchen und Sozialeinrichtungen zu konzentrieren, die – so wichtig sie auch sind – nie die Priorität im Leben eines Bischofs haben sollten. Überlastet mit administrativen Aufgaben und allen möglichen Verwaltungsangelegenheiten hat der Bischof keine Zeit mehr und auch nicht mehr die seelische Freiheit und Offenheit für die geistliche Beziehung zu seinen Priestern, die höchstens noch sporadisch gepflegt wird. Er kann nur noch durch Vermittler und auch nur dann, wenn Probleme auftauchen, die Aktivitäten seiner Priester verfolgen, die sich von ihrem eigenen geistlichen Vater im Stich gelassen fühlen. Daher sehen die meisten Priester ihren Bischof nur noch als „Chef“ oder Dienstvorgesetzten, vor dem es besser ist sich zu verstecken. So kann die Verwaltung mit ihren vielen Problemen zu einer Versuchung des geistlichen Hirtendienstes werden und zusammen mit zu vielen Ehrenbezeigungen die Mission des Bischofs schwer korrumpieren, die von ihrem Wesen her geistlich sein muss, wie auch die Mission des Priesters selbst. So glaube ich, dass ein Bistum höchstens hundert Kirchengemeinden haben sollte, auf die der Bischof in allen Gesichtspunkten sorgen kann, in erster Linie aber in geistlicher Hinsicht. Die regelmäßige Präsenz des Bischofs in den Gemeinden, und zwar nicht nur zur Kirchweih und sonstigen schönen Anlässen, wenn alles rosig ist, würde ihm die Möglichkeit geben, die Lage vor Ort wirklich wahrzunehmen und mit Weisheit einzugreifen, um viele Fehlentwicklungen zu korrigieren. Ohnehin haben die Gläubigen einen großen Respekt vor ihrem Bischof, den sie in der jetzigen Situation meist nur aus der Distanz oder aus den Medien kennen. Es gibt Dörfer, die haben über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte ihren Ortsbischof nie in ihrer Mitte gehabt, in letzter Zeit vielleicht einmal einen Weihbischof. Dabei ist unsere Orthodoxe Kirche eine Bischofskirche, keine Presbyterialkirche.
Was das Verhältnis Kirche – Staat betrifft, so bleibt das traditionelle Modell einer „Symphonie“ in der orthodoxen Sicht das am meisten erstrebenswerte, auch wenn es nie perfekt funktioniert hat. Dies auch deshalb, weil die Orthodoxie in ihrer holistischen ganzheitlichen Sicht nie scharf zwischen der materiellen und der geistlichen Welt getrennt hat. Die Erlösung betrifft nicht nur die Seele des Menschen, sondern im gleichen Maße auch den Leib und die Umwelt, das ganze Universum, das sich im Menschen konzentriert und rekapituliert. Grundsätzlich müssen alle Institutionen einer Gesellschaft dem Menschen in seiner auch ewigen und nicht nur zeitlichen Bestimmung dienen, weil die menschliche Person nicht auf ihre zeitliche Dimension, also auf dieses Leben, reduziert werden kann. Als öffentliche Institutionen sind der Staat wie die Kirche gleichermaßen gerufen, dem Menschen zu dienen, sich gegenseitig zu respektieren, sich nicht gegenseitig in ihre Bereiche einzumischen, aber in den Bereichen zu kooperieren, in dem es um das Wohl des Einzelnen und das Gemeinwohl geht. Heute erfreut sich die Orthodoxe Kirche in den vormals kommunistischen Staaten in vieler Hinsicht der Unterstützung durch den Staat, wie auch die Kirche den Staat bei der Moralerziehung der Gesellschaft und seinen Sozialaufgaben unterstützt. In Rumänien erfreuen sich alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen dieser Unterstützung durch den Staat. Als moralische Autorität hat die Kirche aber gleichzeitig die Pflicht, sich dem Staat entgegenzustellen, wenn dieser die Verfassung des Landes nicht respektiert oder Gesetze erlassen werden, die den fundamentalen Werten des Evangeliums oder dem Naturrecht widerstreben, wie etwa bei der Freigabe der Abtreibung, der Euthanasie, gleichgeschlechtlichen Ehen und der Prostitution… Dabei besteht die Gefahr, dass die Kirche in dem Maße Schwäche zeigt und sogar ihre Freiheit gegenüber dem Staat verliert, in dem sie finanziell vom Staat abhängig ist. Daher erscheint es mir ausgesprochen unpassend, wenn die Diener der Kirche vom Staat ihren Lohn erhalten. Ich glaube, dass die angemessenste Form der Bezahlung der Pfarrer der Kirche jene durch die Kirchenbeiträge der Gläubigen selbst oder aus der Kirchensteuer ist, wie dies ja auch in mehreren westlichen Ländern der Fall ist.
Das Phänomen der Globalisierung, das in dieser Ausformung und Geschwindigkeit spezifisch ist für die Moderne, stellt für die Orthodoxe Kirche eine große Herausforderung dar, vor allem weil sie aufgrund ihrer – wie schon erwähnt – nicht einfachen Geschichte über lange Phasen ihrer Geschichte isoliert blieb von der Außenwelt. Der unvermittelte Übergang von einer sehr eingeschränkten Freiheit, die jedoch einen gewissen Schutz und eine gewisse Ruhe garantierte, in die absolute und unbeschränkte Freiheit traf auf eine Orthodoxie, die darauf unvorbereitet war, nun der Globalisierung standzuhalten, die mit unglaublicher und gelegentlich erschreckender Geschwindigkeit und Dynamik alle Lebensbereiche erfasst hat. Bisher hat die Orthodoxe Kirche keine gemeinsame Position zu diesem komplexen Phänomen formuliert, das ohnehin nur schwer in all seinen Aspekten zu erfassen ist. Verschiedene Ortskirchen haben allerdings in aller Deutlichkeit reagiert auf bestimmte negative Entwicklungen, vor allem in moralischer Hinsicht, die mit dem Phänomen der Globalisierung einhergehen: dem dominanten materialistischen Zeitgeist, der an der Wurzel dieses Phänomens steht, die Negierung oder Relativierung des Glaubens, die maßlose Übersteigerung der Menschenrechte bis zu ihrer Pervertierung, die Nichtberücksichtigung der eigenen Identitäten und Traditionen, das Fehlen von Gesetzen zum Schutz der Privatsphäre des Menschen oder auch des Weltmarkts vor Erschütterungen wie in der jüngsten Zeit, wie auch zum Schutz der Umwelt, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Ich glaube aber, dass wir neben diesen negativen Aspekten, die es mit Entschlossenheit zu bekämpfen gilt, in dem Phänomen der Globalisierung auch einen positiven Geist entdecken können, nämlich das Streben nach Einheit der Welt, die nur von Gott kommen kann. Es ist ein wenn auch unbewusster Versuch, auf den Stand vor dem Turmbau zu Babel zurückzukommen! Doch wie bei jeder Geburt ist auch diese Neugeburt der Welt nicht zu schaffen ohne Geburtswehen. Vergessen wir nicht, dass auch die Ausbreitung des Römischen Reiches und der „Pax Romana“ ein Versuch der Globalisierung war, von dem das Christentum gänzlich profitiert hat zu seiner eigenen Verbreitung. Die Christen sollten sich bemühen, von den positiven Seiten beim Prozess der Globalisierung, den niemand stoppen kann, zu profitieren: der Meinungsfreiheit und der Reisefreiheit, um die eigene Mission in die Welt hinauszutragen und gleichzeitig alle Kräfte zu vereinen, um den negativen Auswirkungen der Globalisierung zu entgegenzuwirken.
Das Bemühen um die christliche Einheit ist im gleichen Sinne zu sehen. Unser Herr Jesus Christus hat darum gebetet, dass alle, die an Ihn glauben, eins seien, „damit die Welt glaubt“. Die Spaltung der Christen ist das kontraproduktivste Zeugnis überhaupt und ein Anstoß für die Welt, die in den Christen die Verkörperung der Liebe Christi sehen, in der sich die „verrückte“ Liebe Gottes für die Menschen erweist. Wir aber instrumentalisieren die Liebe, wir stellen ihr fortwährend Bedingungen, wir verwandeln sie geradezu in ein Kampfinstrument gegenüber jenen, die nicht so wie wir glauben. Was heißt nicht, dass die Liebe blind ist und alles erträgt, sogar die Häresie. Nein, die Liebe ist sehr luzide, aber sie wendet sich ohne Hochmut jedem zu, sie wird eins mit ihm und versucht, ihn für Christus zu gewinnen: „Ich bin allen alles geworden, um wenigstens einige zum Heil zu führen.“ Ob er auch eins wurde mit den Juden oder mit den Heiden, so verlor der Apostel dabei doch nie seine ureigene Identität als Christ.
Es ist bekannt, dass die Orthodoxen zurückhaltend sind gegenüber der Ökumenischen Bewegung. Diese Haltung kommt sowohl aus dem Geist einer Art Selbstgenügsamkeit, weil sie die Fülle der Wahrheit bezeugen, vor allem aber dank der Haltungen einiger Kirchen zu moralischen Problemen, mit denen die moderne Welt konfrontiert ist wie Homosexualität, Abtreibung, Euthanasie und Genmanipulation… In der Tat ist der Mangel an christlicher Einheit im Blick auf diese schweren Sünden, die zum Verfall der Familie und auch zum allmählichen Verschwinden des Christentums durch die sinkenden Geburtenraten führen, ein weiteres kontraproduktives Zeugnis gegenüber der nicht-christlichen Welt, und das besonders in moralischer Hinsicht. Hier müssen wir wiederum sehen, dass – obwohl die Orthodoxe Kirche Abtreibung und den Gebrauch von Verhütungsmitteln strikt untersagt – die Wirklichkeit in den mehrheitlich orthodox geprägten Ländern noch viel schlimmer ist als in den anderen christlichen Ländern. Wir Orthodoxen müssen begreifen, dass es nicht ausreichend ist, die Fülle der Wahrheit zu bezeugen, sondern wir müssen die Wahrheit leben. „Nicht jeder, der Herr, Herr zu mir sagt, wird in das Himmelreich eingehen!“
Leider existiert unter Orthodoxen auch eine Art von virulentem Anti-Ökumenismus, der nicht anders als eine geistliche Krankheit verstanden werden kann, vor allem weil kein in der Ökumenischen Bewegung engagierter Orthodoxer Kompromisse in der Lehre machen würde, die nicht vom orthodoxen Gewissen gedeckt wären. Auch wenn der Dialog nicht immer einfach ist, weil alle an ihrer Identität festhalten, so bleibt der Dialog doch der einzige Weg zur Annäherung zwischen den Christen. Die Ablehnung des Dialogs mit den anderen Christen oder auch den Nicht-Christen ist ein Ausdruck fehlender geistlicher Reife, ein Beweis für eine Angst, die dem Geist der Freiheit in Christus entgegengesetzt ist. Es gibt in allen Bereichen des Lebens eine wirkliche Kultur des Dialogs, die leider denen fehlt, die an totalitäres Denken gewöhnt sind. Von da kommen alle Unstimmigkeiten zwischen den Menschen her.
Was das gemeinsame Gebet nach dem Ritus jeder Kirche betrifft, so glaube ich, dass es der Odem selbst und die Inspiration für jeden Dialog ist. Ohne Gebet und Demut hat der Dialog keine innere und überzeugende Kraft und führt zu nichts. Dabei versteht sich von selbst, dass das gemeinsame Gebet nur mit Christen gepflegt werden kann, die die Heilige Trinität und Jesus Christus als Gott und Menschen bekennen, weil sich das Gebet an die Heilige Trinität und den Erlöser Christus richtet. Die Kanones des vierten Jahrhunderts, die das Gebet mit Häretikern verbieten, beziehen sich gerade auf diejenigen, die die Heilige Trinität ablehnen, das heißt die Gottheit Christi oder des Heiligen Geistes. Doch alle historischen Kirchen bekennen die Heilige Trinität und Jesus Christus als wahren Gott und wahren Menschen, der für die Erlösung der Welt gestorben und auferstanden ist.
Ein weiteres Problem, mit dem die Orthodoxie seit mehreren Jahrzehnten konfrontiert ist, ist jenes der orthodoxen Diaspora, die in der letzten Zeit immer größer wird. Die Orthodoxie ist heute über alle Kontinente der Erde verstreut. In manchen Ländern wie den USA, Frankreich, England, Australien, Deutschland und Österreich kann sie bereits auf eine beachtliche Geschichte zurückblicken und ist in zahlreiche Bistümer mit Klöstern und theologischen Hochschulen organisiert. In anderen Ländern wie Italien oder Spanien blickt sie auf eine kürzere Geschichte zurück, doch ist sie nicht weniger bedeutend hinsichtlich ihrer Zahl. Überall ist die Orthodoxie nach ethnischen Gesichtspunkten organisiert, indem die Bistümer üblicherweise der Jurisdiktion der Mutterkirche unterstehen. Trotzdem erhebt das Ökumenische Patriarchat unter Bezug auf einen Kanon des fünften Jahrhunderts (Kanon 28 des IV. Ökumenischen Konzils) Ansprüche auf die ganze orthodoxe Diaspora, zur Irritation der anderen orthodoxen Ortskirchen. Auch wenn sie sich dessen bewusst sind, dass die Zukunft der Orthodoxie in der Diaspora darin besteht, eigenständige oder sogar autokephale Lokalkirchen zu gründen, so ermutigt doch keine Mutterkirche diesen naturgemäßen Prozess, den freilich niemand verhindern kann. Denn hier geht es um eine natürliche Entwicklung der Integration der Gläubigen in die Kultur des Raumes, in dem sie leben. Es ist nur natürlich, dass die Orthodoxen der zweiten, dritten oder vierten Generation für sich nicht mehr die Bezeichnung als Diaspora akzeptieren. Sie sind perfekt integriert in die Gesellschaft, in der sie leben, und wünschen sich, ihre eigene Kirche zu haben mit der Gottesdienstsprache des jeweiligen Landes, in dem sie leben, ohne freilich ihre ethnischen Wurzeln und vor allem die jeweiligen Traditionen ihrer Mutterkirche zu leugnen. Dies ist besonders augenscheinlich bei den Orthodoxen in den USA und Frankreich. 1994 haben alle orthodoxen Bischöfe aus Nordamerika ein gemeinsames Dokument unterzeichnet, in dem sie von ihren Mutterkirchen forderten, den Wunsch der Gläubigen anzuerkennen, sich in Nordamerika in einer gemeinsamen orthodoxen Kirche zu vereinigen. Es ist bekannt, dass die Reaktion des Ökumenischen Patriarchats sehr massiv war bis hin zur Suspendierung des Metropoliten Iakovos.
Wahr ist auch, dass sich zur alten Emigration eine neue hinzugesellt hat, die sehr zahlreich ist und stark an die Kirchen der Herkunft gebunden ist. Das entspricht der Natur der Sache, doch bremst es den Prozess der Organisation der orthodoxen Diaspora nach dem Territorial-Prinzip. Ich denke, dass das Modell, das die Autokephale Orthodoxe Kirche von Amerika bietet, die sowohl nach dem Territorial-Prinzip, als auch nach dem ethnischen Prinzip organisiert ist, das gegenwärtig geeignetste ist zur Dynamisierung der orthodoxen Mission und ihres einheitlichen Zeugnisses in einer säkularisierten Welt.
Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass die Orthodoxen in der Diaspora überall von den Mehrheitskirchen offen aufgenommen wurden. An unzähligen Orten feiern die Orthodoxen ihre Gottesdienste in Ermangelung eigener Kirchen in katholischen oder protestantischen Kirchen. Auch wurde der Bau eigener orthodoxer Kirchen von den Mehrheitskirchen mit großzügigen Zuschüssen unterstützt. Es gibt im Allgemeinen eine hervorragende Zusammenarbeit auf den verschiedensten Ebenen zwischen den Orthodoxen und den anderen Christen. Im Unterschied zu dem, was einige Orthodoxe in den traditionell orthodoxen Ländern glauben, machen ihre Glaubensgenossen in der Diaspora keine Kompromisse in Lehrfragen – und niemand verlangt das –, sondern sie respektieren die Tradition der Kirche, einige mehr, als sie es in ihrem Heimatland getan haben.
Ich muss hinzufügen, dass die Frage der orthodoxen Diaspora und die Anerkennung der Autonomie und Autokephalie die einzigen Themen auf der Tagesordnung des heiß erwarteten „Heiligen und Großen Panorthodoxen Konzils“ waren, die bislang nicht gelöst wurden. Sie wurden zuletzt in Chambésy 1993 diskutiert! Wie allgemein bekannt, spaltet das Problem der kanonischen Jurisdiktion die Orthodoxie tief. Das hängt auch mit großen Kommunikationsproblemen zwischen den Kirchenführern der autokephalen Kirchen auf panorthodoxer Ebene zusammen. Patriarch Ignatius von Antiochien hat immer wieder die große Notwendigkeit regelmäßiger Treffen der Kirchenführer unterstrichen. Kürzlich hat Patriarch Daniel solche Treffen im Turnus von drei Jahren vorgeschlagen. Dabei entspricht die Tendenz zur Zersplitterung in Autokephalien nach dem Nationalprinzip nicht dem traditionellen orthodoxen Geist. Die Orthodoxe Kirche braucht eine grundsätzliche Restrukturierung ihres Systems der Organisation und Funktion auf panorthodoxer Ebene.
Fazit
Anstelle eines Fazits möchte ich einige gemeinsame Wünsche der Orthodoxen Kirchen im vereinten Europa formulieren, was das Verhältnis von Kirche und Staat sowie Kirche und Gesellschaft betrifft. Wir erwarten von der EU eine rechtliche Absicherung der öffentlich-rechtlichen Stellung der Kirchen in den einzelnen Staaten und auf EU-Ebene und auch das Recht, zu wichtigen gesellschaftspolitischen öffentlich Stellung zu beziehen, vor allem bei Fragen, die die moralischen Normen betreffen, die die Grundlage einer gesunden Gesellschaft bilden. Das heißt: die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche auf der Ebenen der Nationalstaaten, die EU-Mitglieder sind, muss Ländersache bleiben. Hier darf die EU nicht in die nationale Gesetzgebung eingreifen. Nationalstaatliche Regelungen in bezug auf das Staatskirchenrecht, Religionsunterricht, religiöse Symbole in Schulen und öffentlichen Einrichtungen, staatliche Förderung für die Kirche in unterschiedlichen Bereichen müssen grundsätzlich gemäß den Traditionen der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten geregelt werden. Länder, die auf gesetzlicher Grundlage ein Kooperationsmodell zwischen Kirche und Staat anwenden oder in denen ein Staatskirchenmodell gilt, müssen dieses Modell weiter ohne Einschränkung beibehalten und pflegen dürfen. Dies berührt auch die Regelungen etwa von Feiertagen und religiösen Aktivitäten und Äußerungen in der Öffentlichkeit. Die Kirchen müssen auf politischer Ebene sowohl in den Mitgliedsstaaten wie auf EU-Ebene als Verhandlungs- und Dialogpartner akzeptiert und verstanden werden, nicht als Lobbyisten gegenüber Politik und Verwaltung.
Die Orthodoxe Kirche erwartet, dass die EU die religiöse Identität der Menschen in Europa als grundlegenden Aspekt der Menschenwürde würdigt und schützt. Die freie Ausübung der Religion muss gewährleistet sein und bleiben und darf nicht zu persönlichen Nachteilen führen.
Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa